Es ist eine verschlossene Stadt in der Stadt, mitten in Hamburg. Sie hat keinen Namen und ist auf keiner Karte eingezeichnet und doch kann sie jeder sehen. Einige Straßenzüge liegen in St. Pauli, andere in Harburg, Altona oder Wilhemsburg. Die parallele Stadt hat eigene Restaurants und Cafés, Lebensmittelgeschäfte, Schneider, Ärzte, Anwälte, Banken, Werbeagenturen, Tankstellen, Bestattungsinstitute und Gotteshäuser. Sie hat 13 Tageszeitungen, von "Sabah" bis "Milliyet", drei Nachrichtenmagazine und eigene TV- und Radiosender, von "ATV" bis "Radio D". Ihre Fussballvereine heißen "Vatan Gücü SC", "Wilhelmsburg Türkgücü" oder "Inter Osdorf 96". Ihre Nachtclubs, durch die die Jugendlichen am Wochenende zu Hunderten ziehen, tragen Namen wie "Kral", "Alem" oder "Club Didikodu".
Über 70 000 Menschen leben in dieser verborgenen Stadt. Viele von ihnen verlassen sie kaum, denn alles, was sie brauchen - Familie, Religion, Freunde, Arbeit -, finden sie in ihr.
Einer von ihnen ist Ömer Sezener (19), geboren in Istanbul, seit zwölf Jahren in Deutschland. Genau wie in Istanbul frühstückt er auch in St. Georg mit Sucuk (Knoblauchwurst), Rührei und Fladenbrot. Den Tag über arbeitet er mit zwei Cousins im Obst- und Gemüseladen seines Onkels auf dem Steindamm. Irgendwann macht er Pause. Dann isst er ein Börek (türkische Pizza) und trinkt einen Cay (Tee) in einem der zwei Dutzend Imbisse in der Gegend. Zum Haareschneiden geht er zum türkischen Friseur "Bizim Berber" in der Böckmannstraße. Vis-à-vis, im Supermarkt der Moschee, kauft er sein Fleisch - er weiß, dass es nach islamischem Ritus geschlachtet worden ist. Abends besucht er seine Freunde. Auch sie kommen fast alle aus Istanbul: Man redet über dies und das - und immer wieder über Galatasaray und Besiktas, die beiden Istanbuler Fußballteams - und nebenher laufen die neuesten Musikvideos auf Kral-TV, dem türkischen MTV. Deutsch spricht er an solchen Tagen nur, wenn ihn im Geschäft seines Onkels ein Libanese nach dem Preis für ein Pfund Tomaten fragt.
Die alte Erwartung, ausländische Minderheiten würden über kurz oder lang in der deutschen Mehrheit aufgehen, ist tot: Statt sich zu assimilieren, bilden manche Gruppen Mini-Staaten, quasi-selbstständige Ableger ihrer Heimatländer. Bei keiner anderen Gruppe wird das so deutlich wie bei der größten: den Türken. Die Türkei fördert das Wachsen solcher landlosen Kolonien in Hamburg und anderswo. "Über türkische Vereine und Verbände, NGOs (Nicht-Regierungsorganisationen), Journalisten und Medien, aber auch mit Hilfe der Religions-Attachés an den Konsulaten soll die kulturelle Anbindung gesichert werden", erklärt Cigdem Akaya, Stellvertretende Direktorin des Zentrums für Türkeistudien in Essen. "Die Türkei profitiert von der Existenz der Türken im Ausland: Erstens ist sie an einer Rückkehr dieser Gruppe nicht interessiert, weil sie auch auf Grund der Wirtschaftslage kaum zu integrieren ist. Und zweitens ist sie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Sie schickt Geld an Angehörige in der Türkei, beschäftigt dort Zulieferer oder gründet dort Firmen."
Ein solcher Wirtschaftsfaktor ist auch Ömers Onkel Gökhan: Oliven, Schafskäse und Öl zum Beispiel bezieht er aus der Türkei. Und wenn Ömer Urlaub macht, fliegt er in der Regel für einen Monat nach Istanbul und an die türkische Riviera. So fließt sein in Deutschland erarbeitetes Geld in den türkischen Wirtschaftskreislauf.
Vieles hat dazu beigetragen, dass die Hamburger Türken ihre eigene Stadt gründen wollten und konnten. Da sind zunächst die "weichen Faktoren", jene der Kultur: Vielen Türken ist die deutsche Gesellschaft zu modern. In anderen Worten: zu tolerant, zu amoralisch, zu egoistisch, zu materialistisch. "Je reicher die Menschen hier werden, desto stärker isolieren sie sich", sagt Mustafa Yoldas, Öffentlichkeitsreferent der Zentrumsmoschee, der größten in Hamburg. "Wer sich in den Konsum nicht einordnet, ist ein Außenseiter. Solidarität und Nachbarschaftshilfe gibt es kaum noch, und in den meisten deutschen Familien spielt das religiöse Leben keine Rolle mehr", meint Yoldas. "Wir versuchen den jungen Leuten in den Koranschulen eine moralische Erziehung zu geben: Die islamische Sittenlehre untersagt Drogen, Alkohol, Homosexualität und betont voreheliche Keuschheit."
"Bei uns ist der Zusammenhalt wichtig", meint Ömer. "Wenn wir am Wochenende überraschend Besuch kriegen, können wir uns bei unseren türkischen Nachbarn Eier, Mehl und Brot holen, das ist normal. Und niemand erwartet, dass man das Stück für Stück zurückgibt. Bei den Deutschen ist es dagegen oft so, dass sie ihre Nachbarn gar nicht kennen."
Aber auch Türken, die nicht religiös sind, stehen mit dem deutschen Mainstream nicht immer auf gutem Fuß. "In Mümmelmannsberg oder Wilhelmsburg, in den Ghettos, da fühlen sich die jungen Leute ausgeschlossen, nicht respektiert. Da ist der Deutsche der Feind", sagt Gürcan Aksoy, Impressario des Ethno-Popstars Tarkan und Veranstalter des "Club Didikodu" im Wandsbeker "Check Inn". "Deshalb gibt es diese Rückbesinnung auf die türkische Kultur, auf das Traditionelle."
"Zurzeit findet unter den Türken ein Prozess der Selbstethnisierung statt. Das ist eine Aufwertung der eigenen Gruppe durch die Zuweisung positiver Aspekte", erklärt Wilhelm Heitmeyer, Sozialwissenschaftler an der Uni Bielefeld. "Auf Grund der Fremdenfeindlichkeit und der schwierigen Lage am Arbeitsmarkt gibt es vor allem unter türkischen Jugendlichen eine Rückzugstendenz in die türkische Kultur."
Neben diesen kulturellen Gründen spielen aber auch harte Faktoren eine Rolle. Erstens haben die Türken in Deutschland schon vor Jahren jene kritische Masse erreicht, die das Entstehen von Schattengesellschaften erst ermöglicht: Wenn, wie in Hamburg, mehr als 70 000 Menschen zusammenkommen und in über 50 Branchen mehr als 3000 Firmen betreiben, ist der Mini-Staat kräftig genug, um in vielerlei Hinsicht auf eigenen Beinen zu stehen.
Der zweite harte Faktor sind Transport und Kommunikation: Noch nie war es so billig, Waren und Informationen über enorme Distanzen zu bewegen wie heute. Zeitungen, TV-Sender, Telefonnetze, Schiffe und Lkw sind die Arterien, die den türkischen Mikroorganismus in Hamburg mit frischem Blut versorgen.
"Früher war es unheimlich schwer, in die Türkei zu telefonieren", sagt Ömer. Man musste lange warten und dann wusste man nie, ob es klappt und wie lange. Heute dagegen ist es ganz einfach: Man wählt und die Freunde oder Verwandten sind dran. Wenn man seine Leute einfach mal so zwischendurch anrufen kann, fühlt man sich näher dran."
Was aber bedeutet all das für die Integration? Werden die Bewohner der parallelen Stadt auch in drei, vier, oder fünf Generationen noch Fremde, "Ausländer" für die Deutschen sein?
"Nein", sagt Erhard Franz, Türkei-Experte am Deutschen Orientinstitut in Hamburg. "Wir haben in unserer Geschichte oft andere Gruppen aufgenommen, zum Beispiel die Hugenotten in Berlin oder die Polen im Ruhrgebiet. Auch bei den Türken ist eine Integration abzusehen, sie werden sich assimilieren."
Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
"Integration kann nur gelingen, wenn die ethnische Minderheit etwas hat, das für die Mehrheit von Interesse ist. Das war im Falle der Gastarbeiter früher billige Arbeit. Heute ist jedoch Bildung der entscheidende Faktor. Wer hier nicht gleich mithält und keinen langen Atem hat, bleibt auf der Strecke", sagt Hartmut Esser, Sozialwissenschaftler an der Uni Mannheim.
Statistiken zeigen jedoch, dass die Gruppe der türkischen Jugendlichen in punkto Bildung hinter den deutschen Altersgenossen immer mehr zurückbleibt: Nur wenige junge Türken besuchen weiterführende Schulen und Hochschulen, der Anteil derer, die keine Lehrstelle finden, ist enorm hoch.
"Auf diese Weise entsteht ein System der ethnischen Schichtung: Bestimmte Gruppen mit bestimmten kulturellen Merkmalen sind anderen Gruppen systematisch und dauerhaft untergeordnet. Es ist die Wiederkehr der feudalen Ständegesellschaft in der Moderne, fast ein Kastensystem, nur dass die religiöse Legitimation fehlt", analysiert Esser.
Keine gute Aussicht: Sammeln sich im Schatten der verschlossenen Stadt die enttäuschten Hoffnungen für den offenen ethnischen Konflikt von morgen?
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