Von STEFANIE FRIEDHOFF Zhu Rongji lächelt abwesend, als er aus seiner Limousine steigt. Die 150 Demonstranten mit Plakaten wie "Befreit Tibet! Respektiert die Menschenrechte!" oder "Tibet gehört zu China", die sich am Mittwoch auf dem Campus des Massachussetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, USA, eine mediengerechte Scheinschlacht zu seinen Ehren liefern, nimmt der chinesische Premierminister nicht wahr. Er hat Ähnliches in den vergangenen acht Tagen nicht beachtet, warum sollte er es jetzt tun? Seine Mission ist eine andere, und sie macht Fortschritte: Noch in diesem Monat wollen China und die USA weiter über den Eintritt der Volksrepublik in die Welthandelsorganisation (WTO) verhandeln, bis zum Jahresende soll die bisher von den USA abgelehnte Aufnahme perfekt sein. Mit dieser Zusicherung kann Zhu Rongji (70) in aller Ruhe die erstaunlichste USA-Reise beenden, die je ein chinesischer Staatsgast unternahm.
Wie ein Hollywood-Star
Denn eines ist klar, seit der Premier gleich einem Hollywood-Star in neun Tagen durch sechs US-Städte jettete: Dieser Politiker ist anders als die anderen, die bisher aus dem Reich der Mitte kamen. Dieser kann auf Förmlichkeit verzichten, locker auf Menschen zugehen. Er macht Witze, sogar über sich selbst. Und er läßt das Bild der engstirnigen, fahlen, wirtschaftsfeindlichen Kommunisten verblassen, das China-Kritiker in den USA propagieren.
In Denver zum Beispiel spielte Zhu Rongji American Football und diskutierte später bei eisigem Wind mit einigen Farmern. In Chicago erheiterte er die Brooker an der Börse, indem er die pünktlich zu seinem Besuch veröffentlichten Untersuchungen zum Verdacht, China habe US-Nuklearwaffen-Technik ausspioniert, mit dem Satz kommentierte: "In Zukunft tragen unsere Missiles die Aufschrift ,made in China, not in USA ." Und in New York verblüffte der Mann, der sich die Zahl Pi bis auf 30 Stellen hinterm Komma merken kann, Bänker und Geschäftsleute mit Fachwissen und Sachkenntnis: Dieser Premier beherrscht die Kunst medienwirksamer Selbstdarstellung wie kein chinesischer Politiker vor ihm.
So auch in Cambridge. Betont ernst betritt "der Mann mit dem Pokerface" (The New York Times) die Bühne der MIT-Kresge-Hall, begeistert begrüßt von 1200 sorgsam ausgesuchten Gästen. Um sogleich charmant lächelnd und entgegen aller anderslautenden Ankündigungen nur zu einem Thema zu sprechen: Handel. Das ist schließlich seine Mission.
Die USA beklagen derzeit ein Rekord-Handelsdefizit von 57 Milliarden US-Dollar gegenüber China - und manche Politiker fürchten, das bevölkerungsreichste Land der Erde (1,3 Milliarden Einwohner) nehme Amerikanern Arbeitsplätze weg, ohne sich für den freien Handel zu öffnen.
Die Volksrepublik selbst dagegen ist durch die Asienkrise und die wachsende Arbeitslosigkeit geschwächt und auf ausländisches Kapital angewiesen - und auf Konkurrenz, um die maroden Staatsbetriebe wieder auf Trab zu bringen.
Auch deshalb sagt Zhu Rongji an diesem Tag: "Laßt uns nicht so einen Wind um das Handelsdefizit machen, das unsere Behörden nur mit 21 Milliarden US-Dollar berechnet haben und ein unabhängiges US-Institut mit 37 Milliarden. Fakt ist doch, daß wir in China gar keinem US-Amerikaner den Arbeitsplatz streitig machen können, weil wir sogenannte Low-Lewel-Jobs ausüben, die keine US-Firma mehr anbietet."
Plakativ schildert der Wirtschaftsprofessor, wie er seine Sekretärin in einen Schuhladen in Chicago schickte, um Preise zu checken, und dabei feststellte: Turnschuhe, die in China für 20 Dollar produziert werden, kosten in den USA 100 Dollar.
Der chinesische Arbeiter bekommt davon zwei Dollar", listet der Sohn einer alten, einst reichen chinesischen Dynastie auf. "Manche finden das wenig, ich aber sage: Das ist auf jeden Fall ein Arbeitsplatz und eine Zukunft für einen Chinesen. Der Westen braucht uns nicht zu fürchten, wir werden auch in 40 Jahren noch keine Konkurrenz sein, sondern ein guter Handelspartner!"
Solche Statements kommen an, nicht nur hier im Saal. Auch bei den Wirtschaftsvertretern, die Zhu Rongji traf und die Präsident Clinton daraufhin noch einmal Druck machten, die Verhandlungen zum Eintritt Chinas in die WTO (die den weltweiten Handel ihrer derzeit 134 Mitglieder regelt) zu beschleunigen. Denn wie andere Experten fürchteten sie, China könne von den jetzt gemachten Zugeständnissen (z. B. den Bann für Zitrus-Früchte aufheben, Weizen- und Fleisch-Einfuhr erleichtern) wieder abrücken.
So ist Stratege Zhu Rongji seinem Ziel näher denn je. Locker kann er da auf dem MIT-Podium sagen: "Gestern habe ich mit Bill Clinton telefoniert, und wir waren uns einig: Die Wurzeln für eine tiefe Freundschaft sind gelegt . . ." - während die Clinton-Administration in Washington eilig die Nachricht vom baldigen Fortschritt der WTO-Verhandlungen in die Welt trägt, um der Kritik im Land Einhalt zu gebieten.
Politisches Säbelrasseln
Und das alles am gleichen Tag, an dem der US-Präsident und der NATO-Angriff im Kosovo in den staatlich gesteuerten chinesischen Zeitungen mit Hitler-Techniken verglichen und als Verletzung der Menschenrechte bezeichnet werden. Aber das ist ja politisches Säbelrasseln, das an diesem Staatsbesuch abprallt wie die Horrorvisionen des republikanischen Senators John Warner ("China ist Amerikas gefährlichster und einziger natürlicher Feind im 21. Jahrhundert!") oder die Tatsache, daß noch Zhu Rongji selbst vor drei Wochen sagte, die NATO-Aktion im Kosovo könne zum dritten Weltkrieg führen.
Die Demonstranten draußen haben dagegen konkrete Anliegen. Sie fordern Freiheit für Dissidenten, Freiheit für Tibet, Unabhängigkeit für Taiwan.
Zhu Rongji beachtet sie auch bei der Abfahrt kaum. Er hat eine Mission, die mit all dem nichts zu tun hat. Erst mal. Eine Mission, die Wirtschaftswachstum und damit Wohlstand für sein Land verheißt - und damit vielleicht auch irgendwann Demokratie. Jedenfalls scheint sie ihm wichtiger zu sein als alle politischen Differenzen.
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