Hamburg. …und keiner merkt es. Kurz vor dem Turnier wachsen auch hier die Vorfreude – und die Kritik. Lässt Hamburg eine Chance verstreichen?

Ein Müllwagen. Hendrik Schiphorst reicht sein Handy einmal quer über den Tisch. Das Foto habe er in Gelsenkirchen gemacht, sagt der Geschäftsführer von Sportfive – und zieht das Bild der Müllabfuhr mit dem Logo der Euro 2024 mit Zeigefinger und Daumen zur besseren Sichtbarkeit auf. „Die EM im eigenen Land ist eine einmalige Chance für Deutschland“, sagt er in dem Besprechungsraum am Sportfive-Firmensitz direkt an der Außenalster. „Man muss diese Chance aber auch nutzen.“

Privat ist Hendrik Schiphorst einer der größten Fans der Fußball-Heim-EM in diesem Sommer, beruflich könnte er einer der größten Profiteure werden – und genau 50 Tage vor dem ersten Anstoß ist Schiphorst ungewollt auch einer der größten Mahner. „Man hatte einen extremen Vorlauf“, sagt der Chef des größten Sportarbeitgebers in Hamburg. Diesen Vorlauf habe man aber nur bedingt genutzt.

Sportfive-Chef kritisiert Hamburg und die EM-Vorbereitungen

Schiphorst steckt sein Mobiltelefon wieder in die Hosentasche. Der in Gelsenkirchen fotografierte Müllwagen sei eines der wenigen Beispiele, sagt er, bei denen im öffentlichen Stadtbild auf die EM hingewiesen werde. Der HSV-Sympathisant atmet einmal tief durch. „Die Chance eines Heimturniers kommt in den kommenden 20 bis 25 Jahren sicher nicht mehr.“ Oder mit anderen Worten: Sogar Hamburg muss von Schalke lernen.

Hamburg ist eine von zehn sogenannten Host Cities. So heißt das im Uefa-Sprech. Auf Normaldeutsch: Gastgeberstädte. Vom 14. Juni bis zum 14. Juli wird die EM im Westen (Gelsenkirchen, Dortmund, Köln, Düsseldorf und Frankfurt) gespielt, im Osten (Leipzig und Berlin), im Süden (München und Stuttgart) und natürlich auch im Norden. In Hamburg.

Noch kein großes Interesse an der EM in Hamburg

Nur wirklich mitbekommen hat das hier kaum einer. In einer vom Abendblatt bei der Sportmarketingagentur ONE8Y in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfrage gaben nicht einmal ein Drittel der befragten Fußballinteressierten in Hamburg und Umgebung an, während der EM das Fanfest auf dem Heiligengeistfeld zu besuchen. Knapp die Hälfte der Befragten hat keinerlei Interesse an einem Ticket.

Die Zahlen, die Hendrik Schiphorst kennt, sind andere. Das Turnier sei längst ausverkauft, sagt er. Zumindest fast. Die einzigen Karten, die es noch gibt, sind VIP-Tickets – und die verkauft Schiphorsts Sportfive. „Der Kartenverkauf läuft sehr gut – wir haben bereits mehr Hospitalitytickets verkauft als bei vorherigen Turnieren und die Nachfrage zieht weiter an“, sagt er. 185 bis 195 Millionen Euro dürfte Sportfive durch das VIP-EM-Geschäft machen. Wirklich zufrieden ist Hendrik Schiphorst trotzdem nicht.

Schiphorst fordert Hamburg auf, mehr EM-Gas zu geben

„Die Euro 2024 findet aktuell in Hamburg noch nicht wirklich statt“, sagt der Geschäftsführer, und schiebt gleich noch einen Satz hinterher. „Das wird sicherlich in den kommenden Wochen anders werden.“ Das klingt ein wenig versöhnlich. Oder fordernd.

Die Botschaft scheint jedenfalls angekommen zu sein. An diesem Dienstag hat Sportsenator Andy Grote 1000-Euro-Volunteers bei einem Kick-Off-Event auf Kampnagel begrüßt. So hieß es jedenfalls in der Pressemitteilung des Senats. Gemeint ist eine Auftaktveranstaltung. Für EM-Freiwillige. Einen Tag zuvor wurde von Grotes Senatskollegen Carsten Brosda am Millerntor das Kulturprogramm dieser EM vorgestellt.

Es sind nur noch 50 Tage bis zur EM

Es passiert also doch was. Doch reicht die Zeit, um Hamburg in den letzten 50 Tagen vor der EM auch so richtig in EM-Stimmung zu bringen?

„Ein echtes Euro-Feeling stellt sich wahrscheinlich erst kurz vor dem Turnier ein“, sagt Daniel Nolte. Christian Lenz nickt mit dem Kopf – und sagt: „Dieses EM-Gefühl wird wohl erst kommen, wenn es auch so richtig losgeht.“

Fünf EM-Spiele finden im Volksparkstadion statt

Nolte und Lenz sitzen in einer Loge im Volksparkstadion mit bestem Blick auf den Rasen. Den EM-Rasen. Die beiden HSV-Mitarbeiter sind so etwas wie die inoffiziellen EM-Architekten. Nolte und Lenz waren (mit-)verantwortlich für die dringend benötigten Sanierungsarbeiten am in die Jahre gekommenen Volksparkstadion, in dem fünf EM-Spiele stattfinden werden.

Gerade einmal zwei Jahre ist es her, dass darüber berichtet wurde, ob Hamburg auf die EM verzichten muss. „Stadion-Desaster beim HSV“, titelte die „Bild“-Zeitung. Und: „Alles viel schlimmer“. Nun schaut Christian Lenz auf einen Arbeiter der Telekom, der an der Südtribüne unter dem Dach eine nigelnagelneue 5G-Antenne befestigt und sagt: „Es sind nur noch wenige Restarbeiten zu machen.“

DFB Euro GmbH hat bereits 17 Mitarbeiter im Volkspark

17 Mitarbeiter der DFB Euro GmbH haben ihre Büros bereits im Volkspark bezogen. Das neue Flutlicht und die ausgetauschte Beschallungsanlage funktionieren, ein paar Rollstuhlrampen werden noch bearbeitet. Die Plätze werden von 75 auf 130 erweitert. Die Arbeiten im Sanitärbereich? Laufen. Die Klimaanlagen? Top. Am 21. Mai wird das Volksparkstadion an die Uefa übergeben.

„Alles, was wir bisher modernisiert haben, sind dauerhafte Maßnahmen, die auch nach der EM bleiben“, sagt Nolte über die millionenschweren Sanierungsarbeiten. „Die größte Herausforderung für uns war der Austausch der 40 Dachmembranen“, sagt Lenz.

Tim Mälzer kocht für VIPs bei der EM in Hamburg

Auch Hendrik Schiphorst findet das sanierte Volksparkstadion sehr gelungen. Der Sportfive-Chef will seinem zahlungskräftigen Publikum bei der Europameisterschaft ein ganz besonderes Fußballerlebnis bieten. Das komplette Mobiliar wird ausgetauscht, die Firma Partyrent kümmert sich um ein hochwertiges Interieur. Und kulinarisch wird die Kundschaft von Tim Mälzers Speisenwerft verwöhnt.

Das alles hat seinen Preis. 120.000 Euro kostet eine Loge für alle fünf EM-Spiele in Hamburg, 27.600 Euro kostet eine Skybox beim eher mittelprächtigen Spiel Kroatien gegen Albanien. Das günstigste VIP-Ticket ist für 1250 Euro zu haben.

Tschechien residiert während der EM im Treudelberg

Eckart Pfannkuchen hat noch nicht zugeschlagen. Und im Vertrauen verrät der 51-Jährige, dass er eigentlich auch gar kein echter Fußballfan ist. Doch die EM in Hamburg ist auch für Pfannkuchen eine große Nummer. Schließlich ist der Hoteldirektor des Steigenberger Treudelberg ein echter EM-Gastgeber – und kein Geringerer als die tschechische Nationalmannschaft ist Pfannkuchens Gast.

Noch in der Nacht nach der Auslosung am 2. Dezember in der Elbphilharmonie hat der tschechische Verband sein Interesse am Hotel Treudelberg per Mail bekundet. Genauso wie die Kroaten und die Niederländer. Am nächsten Morgen kam eine tschechische Delegation vorbei – und erhielt den Zuschlag.

Tschechische Nationalmannschaft trainiert in Norderstedt

Tschechien ist jetzt so etwas wie Hamburgs zweites Team neben der deutschen Nationalmannschaft. Gewissermaßen Hamburgs HSV-St.-Pauli-EM-Mannschaft. Die Tschechen wohnen in Pfannkuchens Treudelberg, trainieren in Norderstedt und spielen zweimal in der Vorrunde in Lenz‘ und Noltes Volksparkstadion.

Seit sich die Tschechen für Hamburg entschieden haben, steht das Telefon im Hotel Treudelberg nicht mehr still. Jede Woche ruft eine andere Zeitung oder tschechische Nachrichtenagentur an – und will alles über das tschechische Euro-Campo am nördlichen Stadtrand von Hamburg wissen. Das Interesse in Tschechien sei riesig, sagt Hoteldirektor Pfannkuchen. Nur in Hamburg hat bislang kaum einer mitbekommen, dass ein EM-Team in der Hansestadt residieren wird.

Tschechische Delegation hat 65 Zimmer geblockt

65 Zimmer haben die Tschechen reserviert, ansonsten hüllt sich Pfannkuchen in diskretes Schweigen. Die Uefa, der tschechische Verband – man müsse bitte verstehen, dass er nicht zu viel verraten darf. Nur so viel: „Wir haben uns sehr über die Anfrage der Tschechen gefreut und drücken der Mannschaft natürlich auch kräftig die Daumen im Turnier“, sagt Pfannkuchen. „Unser ganzes Hotel fiebert der Euro schon entgegen – und viele Mitarbeiter, die bislang leer ausgegangen sind, hoffen noch immer, irgendwie an Karten für die Spiele in Hamburg zu kommen.“

Ganz so groß wie in Tschechiens Teamhotel ist die Begeisterung im Rest von Hamburg noch nicht. „Aus meiner Sicht hätte man früher mit der Kommunikation für die Heim-EM beginnen können“, kritisiert Sportfive-Chef Schiphorst. „Das liegt und lag zum Teil auf Landesebene, zum Teil aber auch an den Gastgeberstädten.“

Hamburg Marketing GmbH hatte pfiffige EM-Idee

Zumindest bei der Auslosung in der Elbphilharmonie hat sich die Hamburg Marketing GmbH etwas Besonderes ausgedacht. Auf Containern wurden die Landesflaggen gedruckt, diese wurden im Hafen in den jeweiligen Gruppen übereinandergestapelt. „Diese Bilder gingen um die Welt“, lobt Schiphorst – und erneuert mit dem nächsten Atemzug seine Kritik: „Darauf hätte man aufsatteln müssen.“

Dabei hat Hamburg gleich zwei Werbeagenturen für die Europameisterschaft engagiert. Jung von Matt und Redroses Communication. Diese ist auch für das Fanfest auf dem Heiligengeistfeld verantwortlich. Hier soll es eine sogenannte Fanzone für 10.000 Anhänger geben, dazu dann noch mal ein Public-Viewing-Bereich für 40.000 Fußballinteressierte. Es gibt ein Riesenrad, einen Fanpavillon, einen Beachclub und sogar ein mobiles Ministadion für 820 Zuschauer.

30.000 Niederländer werden in Hamburg erwartet

Ein echter Härtetest für Hamburg und das Fanfest wird das Vorrundenspiel der Niederlande gegen Polen. So machen in der Hansestadt Gerüchte die Runde, dass mehr als 30.000 Holländer kommen wollen. Ein Großteil von ihnen wollte wohl auf der Horner Rennbahn campieren, wogegen sich nun aber das Bezirksamt ausgesprochen hat. Und trotzdem: Rund um den 16. Juni dürfte ganz Hamburg oranje werden.

„So etwas werden die Hamburger so schnell sicher nicht vergessen“, sagt Hendrik Schiphorst, der sich an seine eigenen Fanerlebnisse bei der Heim-WM 2006 noch bestens erinnern kann. Damals sei er beim Spiel England gegen Trinidad und Tobago in Nürnberg gewesen. „Das war ein gigantisches Erlebnis. Aus dem spröden Nürnberg wurde ein pulsierender Fußballkosmos“, so Schiphorst. „Die ganze Stadt war elektrisiert.“

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50 Tage hat Hamburg nun noch Zeit, um sich auch elektrisieren zu lassen. „Ich bin mir sicher, dass es auch diesmal ein fantastisches Turnier wird, das etwas mit Deutschland machen wird“, sagt Schiphorst. Und überhaupt: Manchmal müsse man eher den halb vollen als den halb leeren Becher sehen.

Sobald dieser dann ausgetrunken ist, wird er mindestens mal in Gelsenkirchen europameisterlich entsorgt.