Schlösser, Burgen und jede Menge Sagen und Geschichten - das Weserbergland steckt voller märchenhafter Momente

Ja, was denn nun? Michael Boyer ist "irgendwo in Amerika" aufgewachsen. Sein Alter? "Schreiben Sie mal 49", sagt er und lächelt. Der nette Mann mit den längeren Haaren ist "ungefähr vor 20 Jahren" nach Deutschland gekommen. Und arbeitet seit 15 Jahren im Tourismusbüro in Hameln. Gibt es denn hier auch einen richtigen Rattenfänger? "Der steht vor Ihnen", sagt Michael Boyer. Wie jetzt?

Wahr ist: Wir sind im Weserbergland. Wahr ist auch: Hier kann man sich wunderbar der Wirklichkeit verweigern und an das Märchen glauben. Flunkern ist in diesem geschichtsträchtigen Landstrich mit seinen Burgen und Schlössern und den verwunschenen Wäldern, zwischen denen sich die Weser in aller Ruhe hindurchschlängelt, ausdrücklich erlaubt.

Nicht geklärt ist dagegen bis heute, was in Hameln im Jahr 1284 genau passiert ist. Als ein bunt gekleideter Mann mit Flöte die Stadt erst von einer Rattenplage befreite, indem er die Tiere mit seiner Musik zur Weser lockte, wo sie elendig ertranken. Als man ihm aber den versprochenen Lohn verweigerte, kam der Rattenfänger zurück und entführte mit seinen lieblichen Flöten-Tönen 130 Kinder. "Es gibt keine Leichen und kein Beweismaterial - der spektakuläre Kriminalfall ist auch nach mehr als 700 Jahren immer noch nicht gelöst", sagt Michael Boyer.

Wahr ist, dass die wohl bekannteste deutsche Sage, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt worden ist, noch heute Menschen aus aller Welt nach Hameln lockt. Generationen von Historikern haben sich an dem Entführungsfall abgearbeitet. "Es gibt über den Rattenfänger bestimmt 22 Wahrheiten", sagt Michael Boyer, der diese Region auch deshalb so liebt, weil man sich hier "wieder in die Kindheit versetzen lassen kann".

Um den Zauber und die Magie der Gegend auf sich wirken zu lassen, müsse man allerdings "ein bisschen den modernen Menschen ablegen". Dieses Bedürfnis haben anscheinend immer mehr Leute. Wahr ist, dass das Weserbergland 2010 mit 0,1 Prozent bei den Übernachtungen und 2,9 Prozent bei den Ankünften ein leichtes Plus vermelden konnte. Und damit Niedersachsen mit insgesamt 38,5 Millionen Übernachtungen zum besten Ergebnis der vergangenen zehn Jahre verhalf. Richtig ist auch, dass der reizvolle Weserradweg nach den Strecken an Elbe und Main erneut auf Platz drei der beliebtesten deutschen Touren für Radfahrer landete. Um diese Position zu halten oder sogar auszubauen, können Touristen die Region jetzt auch mit Elektrofahrrädern erkunden.

"Die Nachfrage nach E-Bikes ist enorm gestiegen", sagt Petra Wegener, Geschäftsführerin vom Weserbergland Tourismus. Man kann sie für 20 Euro am Tag ausleihen und, da sie die Tretkraft unterstützen, auch mühelos höhere Lagen der abwechslungsreichen Mittelgebirgsregion erkunden. Kommt man jedoch in die urige Altstadt von Einbeck mit ihrem historischen Fachwerk, das so schön ist, dass sich die Balken biegen, lautet die Frage gleich wieder: Wahr oder unwahr? Hat hier der Schalksnarr Till Eulenspiegel um 1320 wirklich seine Possen getrieben, als er den Hund des Braumeisters in den kochenden Braukessel warf? Schließlich hatte der Meister, der zu einer Gildeversammlung musste, Knecht Till aufgetragen, den "Hopfen" mit zu kochen. Und der Hund hieß nun mal Hopfen. Also rief Till, als das Tier da so zappelte: "Da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt." Und der Meister fluchte: "Jetzt ist Hopfen und Malz verloren."

Ob das stimmt? Noch schlimmer ist es im nur 30 Kilometer entfernten Bodenwerder. Schließlich wurde hier 1720 der Baron von Münchhausen geboren. Als junger Rittmeister in russischen Diensten nahm er an den Feldzügen des Zarenreichs teil und lernte exotische Kulturkreise kennen. Wahr ist, dass der adlige Freiherr wie kaum ein Zweiter die Gesellschaften mit seinen Erzählungen fesseln konnte. Aber ist er wirklich auf der Kanonenkugel geritten, wie es in Bodenwerder überall zu bewundern ist? Hat er sich samt Pferd am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen? Hat er einen achtbeinigen Hasen gejagt? Ist sein Pferd durch ein Torgatter zweigeteilt worden und der Baron einfach unbeirrt auf dem vorderen Teil weitergeritten?

Sicher ist, dass Münchhausen vier Lügengeschichten tatsächlich selbst erzählt hat. Gleichzeitig werden dem Baron von verschiedenen Autoren aber weit über 100 Anekdoten angedichtet. Da ist ein Besuch im Münchhausen-Museum in Bodenwerder vielleicht ganz hilfreich. Oder man schaut sich, kostenlos, das Münchhausen-Musical an, das an jedem zweiten Sonntag von Mai bis September vor der Stadtkirche St. Nikolai aufgeführt wird.

Auf der Suche nach der Wahrheit im Märchenland kann man beim Besuch eines der zahlreichen Schlösser eine kurze Verschnaufpause einlegen. Eines der eindrucksvollsten ist die 822 gegründete Benediktiner-Reichsabtei Schloss Corvey bei Höxter. Bis ins 13. Jahrhundert zählte das Kloster zu den bedeutendsten kulturellen und politischen Zentren in Nordeuropa. Hier erfahren Sie auch die Wahrheit über Hoffmann von Fallersleben, den Dichter der deutschen Nationalhymne. Etwas schwieriger gestaltet sich die Wahrheitsfindung dann wieder beim Besuch der mächtigen Burgen. Das mag auch an den urwüchsigen Wäldern liegen, in deren Einsamkeit sagenhafte Erzählstoffe entstanden sind. Im dicht bewachsenen Reinhardswald, dem größten zusammenhängenden Waldgebiet Hessens, kann man auf der Sababurg heute noch Dornröschen begegnen. Schließlich soll das schöne Kind genau hier von einem Prinzen wachgeküsst worden sein, nachdem es sich an einer Spindel verletzt und darum ein Jahrhundert verschlafen hat.

Und quasi nebenan auf der Trendelburg wimmelt es von Geheimtüren und Himmelbetten, Spinnrädern und knirschendem Gebälk. Im 700 Jahre alten Gewölbe des Widukindkellers wird wie zur Ritterzeit getafelt. "Das Mahl beginnt traditionell mit der Pfotenwaschung, dann gibt es eine Einführung in mittelalterliche Ess-Sitten", sagt Michael Schuhmacher. Der 42-Jährige führt zusammen mit seiner Frau Sabine das urige Domizil, das bereits seit 1949 ein Hotel ist. 1996 erwarb Rolf Lohbeck das märchenhafte Objekt und baute es um. Ganz oben in der Turmstube mit dem historischen Kamin aus dem 16. Jahrhundert und einem Rundumblick auf die Landschaft kann man den Tag bei einem gezapften Bier am Tresen ausklingen lassen. Und sich mit fortschreitender Stunde sehr gut vorstellen, wie es war, als Rapunzel hier ihr Haar vom Turm heruntergelassen hat.

Alles nur an den Haaren herbeigezogen? Wahr ist auf jeden Fall, dass sich die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm in dieser Gegend zu ihren Märchen inspirieren ließen. Deshalb führt heute die Deutsche Märchenstraße von ihrem Geburtsort in Hanau bis zu Hase und Igel nach Buxtehude. Und da die Brüder zu Weihnachten 1812 ihren ersten Band der "Kinder- und Hausmärchen" vorlegten, wird auf der 600 Kilometer langen Strecke nächstes Jahr zum 200. Jubiläum kräftig gefeiert.

Wird dann auch von Doktor Allwissend die Rede sein? Von Grimms Märchen über den Bauern Krebs, der sich den Doktortitel erschlichen hat? "Da sieht man, wie hochaktuell die Märchen noch sind", sagt Boyer und warnt grinsend vor Doktoren, die es schon damals mit der Wahrheit nicht so genau genommen haben.

Aber auch vor den Rattenfängern muss man sich in Acht nehmen. Es sei denn, sie sind so nett wie Michael Boyer aus Hameln.

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