Einige wenige der jahrhundertealten Zitrusplantagen am Gardaseekönnen heute noch besichtigt werden – Likör-Kostprobe inklusive

Ein Morgen am Lago di Garda sieht jetzt im Frühling so aus, als hätten Flugzeuge über Nacht tonnenweise Wattebäusche über dem See abgeworfen. Was für ein fluffiger, weicher Nebel, am liebsten würde man sich hineinfallen lassen wie in ein gigantisches Wasser-Himmelbett. Aber man muss Schnaps trinken. Genauer gesagt Limoncello, per Hand hergestellt aus den Schalen von frischen Limonen, Zucker, Wasser und Alkohol. Kommt einem diese Mischung zunächst unattraktiv vor, entpuppt sich die gelbe Flüssigkeit nach dem ersten Schluck als recht liebenswürdig. Ganz anders als Limoncello aus dem Supermarkt. Viel weicher, weniger künstlich, jedes Glas eine Herausforderung für die gegensätzlichen Geschmacksnerven.
Urlaub süß-sauer, den bekommt man also nicht in China, sondern in Italien. „Sehen Sie, darum liebe ich Zitronen“, sagt Giuseppe Gandossi, 75 Jahre alt, fit wie ein Turnschuh. Liegt vielleicht am vielen Vitamin C, das er in seinem Leben schon zu sich genommen hat. Gandossi führt die Limonaia la Malora. Mit Limonaia bezeichnet man im Italienischen eine Zitrusplantage, die am Gardasee allerdings ganz anders aussieht als beispielsweise in wärmeren Gegenden. In Sizilien pflanzt man Bäume in die Erde, wartet auf die Sonne, und fertig sind Zitronen und Orangen. Im nördlichsten Anbaugebiet für Zitrusfrüchte weltweit muss man sich ein bisschen mehr Mühe geben; wie viel Mühe, das erkennt man an Gandossis Händen. In seiner Limonaia stehen die Bäume auf drei Terrassen am Hang übereinander und sind von drei Seiten durch massive Mauern geschützt. Nur die Seite Richtung Süden ist offen, um soviel Wärme wie möglich einzufangen. Soweit verständlich, aber richtig interessant wird es erst, wenn man das Innere dieses Konstrukts begreift. Es besteht aus einem mobilen Skelett an Holzpfeilern, die zwischen den Bäumen in die Höhe ragen und bei Kälte als Dachpfeiler dienen müssen. Aber wo ist das Dach? „Da liegt es“, sagt Gandossi, zeigt auf einen Stapel Holzbretter und holt ein paar Nägel aus der Tasche. „Ich baue es auf und ab, je nach Wetter.“ Sollte es richtig kalt werden, errichtet der Zitronenbauer auch mal eben eine vierte Wand aus viel Glas, um die Bäume zu schützen und dennoch Licht reinzulassen. Das alles nur mit Werkzeugen, die einen Platz im Museum verdient hätten. Auch das Bewässerungssystem reicht in die Antike zurück, und als Thermometer dient ein Tonkrug mit Wasser, der an den Bäumen hängt. Ist die Wasseroberschicht morgens gefroren, müssen die Bäume so schnell wie möglich geschützt, also eingezimmert werden.

Ein Besuch auf Gandossis Plantage ist wie eine Zeitreise in die Anfänge der Ingenieurskunst. Die Führung kostet nichts, bis auf die zehn Euro für die Flasche Limoncello, die fast jeder anschließend haben will. „Ich erkläre den Besuchern so gern meine Arbeit, weil nur noch wenige sie beherrschen und sich kaum noch jemand an die Zeit des Zitronenanbaus hier erinnern kann.“

Es war eine große Zeit, die im 13. Jahrhundert begann und sich vor allem an der Westseite von Italiens größtem See abspielte. Mönche des Klosters des Heiligen Franziskus in Gargnano hatten die ersten Zitrusfrüchte von der ligurischen Riviera zum Gardasee gebracht und auch die erste Plantage angelegt, von wo aus sich der Anbau ausbreitete. Im 16. Jahrhundert schrieb der Autor Bongianni Grattarolo: „Am Seeufer zwischen Salò und Gargnano gibt es zahlreiche Gärten, die nicht weniger schön und anmutig wirken als die, mit denen die Dichter einst Atlas, Alcinoo und die Hesperiden besagen; üppig in jeder Jahreszeit mit allen jenen Früchten von güldener Schale.“

Die Zitronen wurden zu Hunderttausenden exportiert, insbesondere nach Deutschland, Polen und Russland. Bei der Ernte wurden die Früchte nach ihrer Größe in die Klassen „fine“, „soprafine“, „scarto“, „scartarello“ und „cascaticcio“ geordnet. Gandossi zeigt den Besuchern heute gerne die Holzschablonen, mit denen die Größe bestimmt wurde. Die größten und besten Früchte waren für den Export bestimmt, die anderen blieben in Italien. Zum Höhepunkt der Produktion rund um das Jahr 1900 gab es rund 450 Limonaien an der Westseite des Gardasees, weshalb die Küste den Namen „Riviera del Limoni“ erhielt.

Viele Schriftsteller haben die Gegend um den Gardasee bereist und beschrieben

Genau zu der Zeit kam Goethe hierher. Für den Schriftsteller stellte der Gardasee das „größte Wunder der Schöpfung“ dar. Voller Bewunderung schrieb er in seiner „Reise nach Italien“ über ihn. Am 13. September 1786 fuhr er mit dem Boot von Torbole nach Malcesine, wobei er sich die Limonaien ganz genau anschaute: „Wir fuhren bei Limone vorbei, dessen Berggärten, terrassenweise angelegt und mit Zitronenbäumen bepflanzt, ein reiches und reinliches Ansehen geben. Der ganze Garten besteht aus Reihen von weißen viereckigen Pfeilern, die in einer gewissen Entfernung voneinander stehen und stufenweis den Berg hinaufrücken. Über diese Pfeiler sind starke Stangen gelegt, um im Winter die dazwischen gepflanzten Bäume zu decken. Das Betrachten und Beschauen dieser angenehmen Gegenstände ward durch eine langsame Fahrt begünstigt.“ Auch Goethes Gedicht „Mignon – Kennst Du das Land wo die Zitronen blühen“ (siehe unten) wird ursächlich dieser Fahrt auf dem Gardasee zugeordnet.

Viele weitere Literaten besuchten die Zitronenriviera, darunter 1912 bis 1913 der Schriftsteller und Dichter David H. Lawrence, bekannt durch seinen Roman „Lady Chatterley und ihre Liebhaber“. Ihn faszinierte die Fähigkeit der Zimmerer, die Treibhäuser abzudecken: „Dabei wandelten sie behende von Säulenspitze zu Säulenspitze mit einem riesigen Luftloch unter ihren Füßen“. Ebenso beeindruckte Lawrence die große Betriebsamkeit, die überall zu hören war: „Das Tönen und Knallen der Bretter, die übereinandergestapelt wurden, was von der Bergseite her bis über den See hin erklang ...“

Doch der Erste Weltkrieg, die Entwicklung des Transports sowie die Entdeckung der synthetischen Zitronensäure führten dazu, dass Zitronenanbau immer unrentabler wurde. Außerdem breitete sich der Tourismus weiter aus, weshalb viele Bauern die mühsame Arbeit einstellten und ihr Geld lieber mit der Vermietung von Campingplätzen machten.

Chinesische Medizin im italienischen Hotel sorgt für einen Abstand zur Welt

Heute gibt es nur noch sehr wenige Limonaien wie die von Giuseppe Gandossi. Manche Gewächshäuser werden inzwischen rekultiviert, weil man sich der kulturellen Bedeutung bewusst wird, und Traditionelles bei Touristen immer gut ankommt. Fast möchte man von einer Renaissance des Zitronenanbaus sprechen. Der Geschichte begegnet man nicht nur in vielen Restaurants, die die Zitrone zur ihrem Leitmotiv machen, sondern auch in Straßenschildern, in Türdekorationen, im „Centro Visitatori“ von Tignale sowie auch in neuen Hotelkonzepten. Das Lefay Resort & Spa Lago di Garda wurde beispielsweise architektonisch im Stil der Limonaien errichtet, also aus viel Holz und Glas, und auch im Inneren ist die Zitrone allgegenwärtig – im Namen, den Gerichten, der Dekoration, in alten, großformatigen Fotos aus der Blütezeit des Anbaus sowie in den Wellnessbehandlungen. Wobei Wellness eine unzutreffende Bezeichnung ist für das, was man im Lefay erlebt. Man müsste eher von energetischen Behandlungen sprechen, denn sie folgen den Prinzipien der chinesischen Medizin, für die der Gardasee einen idealen Standort darstellt. Das ständige Wachstum scheint die Gegend mit einer großen Energie aufgeladen zu haben. „Ich spüre hier eine besondere Harmonie, und manchmal ist es, als würde die Zeit stehenbleiben“, sagt Anke Hähnsen, eine Hamburgerin, die an der Rezeption des Spa arbeitet. Einen „Zauberberg“ nennt sie das Hotel, weil es 500 Meter über dem See liegt, und durch diese abgelegene, erhöhte Lage etwas schaffe, das vielen Menschen heute nicht mehr aus eigener Kraft gelingt: einen Abstand zum Rest der Welt zu bekommen. Ein paar Tage am Gardasee reichen, um einen anderen Blickwinkel einzunehmen. „Deshalb wollte ich unbedingt hierher ziehen, der See war schon immer mein Sehnsuchtsort.“ Hähnsen lacht. Sie besitzt das, was man in der chinesischen Medizin das „innere Licht“ nennt. So wie sie strahlen, haben Zitronen das sicherlich auch.