In China wollen Forscher auf einen bisher nicht beschriebenen Primaten gestoßen sein. Kollegen haben allerdings erhebliche Zweifel.

Hamburg. Im Geschichtsbuch der Menschheit gibt es noch viele leere Seiten; besonders lückenhaft ist das Wissen über die Evolution von Homo sapiens in Ostasien. Neuen Stoff für dieses Kapitel wollen nun australische und chinesische Paläoanthropologen geliefert haben: Ihnen zufolge lebte in China neben den modernen Menschen noch bis vor 11 500 Jahren womöglich eine bisher unbekannte Menschenart. Das zumindest schließen die Forscher aus der Analyse von vier Fossilien, die zum Teil seit 30 Jahren in chinesischen Forschungsinstituten lagerten.

Diese Primaten seien "anatomisch einzigartig im Stammbau der menschlichen Evolution", sie zeigten sowohl sehr primitive als auch moderne Merkmale, behauptet Prof. Darren Curnoe, Paläoanthropologe von der University of New South Wales in Australien und Co-Leiter der Studie. Die stark ausgeprägten Augenbrauenwulste, die breite Nase, der vorstehende Kiefer mit großen Backenzähnen und die dicken Schädelknochen fänden sich auch bei Vorfahren des modernen Menschen. Die Form des Hirnschädels allerdings deute darauf hin, dass die Frontallappen des Großhirns ähnlich ausgeprägt waren wie bei modernen Menschen; dagegen waren die Parietallappen wohl primitiv klein.

Mit einer Klassifizierung halten sich Curnoe und sein Team bislang zurück, weil eine DNA-Analyse noch aussteht. "Es könnte sich um eine bisher unbekannte Art handeln, die bis zum Ende der Eiszeit vor 11 000 Jahren überlebt hat. Vielleicht stehen die Fossilien aber auch für eine sehr frühe und bisher unbekannte Form moderner Menschen, die sich von Afrika aus ausbreiteten, aber wahrscheinlich nicht zu den genetischen Merkmalen heute lebender Menschen beitrugen", sagt Darren Curnoe.

Die Zurückhaltung ist vielleicht auch darin begründet, dass die Forscher mit Widerspruch rechnen. Der kommt auch prompt. Eine unbekannte Menschenart? "Das halte ich für sehr unwahrscheinlich", sagt Prof. Jean-Jacques Hublin, Leiter der Abteilung für Humanevolution am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. "Zwar ist die Form des Schädels unterhalb der Augenhöhle tatsächlich ungewöhnlich, aber sie ist wohl eher durch Stauchungen der Knochen im Gestein oder durch eine schlechte Rekonstruktion entstanden. Ich denke, das war ein moderner Mensch, nichts anderes", sagt Hublin. Man müsse von der Vorstellung Abschied nehmen, dass moderne Menschen vor 10 000, 20 000 oder 40 000 Jahren genauso aussahen wie heute lebende Menschen: "Es gab Variationen, anatomische Unterschiede innerhalb der Art."

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Die chinesischen Fossilien - stümperhaftes Stückwerk? Das sehen die Forscher um Curnoe anders, sie sind stolz auf ihre Arbeit. Fünf australische und sechs chinesische Forschungsinstitute hätten sich um die Datierung gekümmert, die insgesamt 41 Knochen in Computertomografen durchleuchtet und aus den Daten 3-D-Modelle erstellt, um die Größe und Form des Gehirns zu simulieren.

Die fossilen Überreste der vier Steinzeitmenschen waren schon vor Jahrzehnten entdeckt worden. 1989 fanden Minenarbeiter in der Höhle Maludong in der chinesischen Provinz Yunnan Skelettteile von drei Primaten. Diese wurden anschließend zwar detailliert auf Chinesisch beschrieben, aber nicht eingehend untersucht - bis 2008 das Team um Curnoe seine Studien begann. In der Höhle waren auch Kohlestückchen entdeckt worden. Sie sind 14 500 Jahre alt, ergab eine Radiokohlenstoffdatierung.

Bereits 1979 hatten Geologen in einer Höhle nahe der Stadt Longlin in der Provinz Guangxi das erste der Skelette entdeckt, zu dem auch ein Schädel gehört. Allerdings extrahierten Archäologen damals nur den Unterkiefer und Fragmente der Rippen aus dem Fels; den Rest des Skeletts beließen sie in einem Steinblock. 30 Jahre lagerten die Überreste im archäologischen Institut von Kunming, bis sie 2009 dem chinesischen Co-Leiter des Forschungsteams, Ji Xueping, auffielen. Der zeigte den Steinblock seinem australischen Kollegen. "Mir blieb mein Mund offen stehen", erzählt Curnoe. "Die Augenbrauen und Teile des Hirnschädels waren im Fels zu sehen. Es deutete sich an, dass diese Merkmale sehr primitiv waren und wahrscheinlich wissenschaftlich bedeutend. Also ließen wir die Knochen ganz freilegen." In der Schädelhöhle steckten Kohlestückchen. Das Ergebnis: Sie sind sogar nur 11 500 Jahre alt. Überraschend wäre dies allerdings nur, wenn es sich nicht um Homo sapiens handelte.

Die jüngsten bis dahin in Asien entdeckten Überreste von Primaten, die zwar der Gattung Homo, aber nicht der Art Homo sapiens zugeordnet werden, sind 17 000 bis 18 000 Jahre alt und stammen von dem kleinwüchsigen Homo floresiensis ("Hobbit"). Knochen und ein vollständig erhaltener Schädel dieser Art wurden auf der indonesischen Insel Flores gefunden. Etwa 30 000 bis 50 000 Jahre alt sind die Überreste des sogenannten Denisova-Menschen, der im Altaigebirge im südlichen Sibirien lebten. Nur zwei Backenzähne und ein Fingerknochen belegen die Existenz dieser Art.

Ein erster Versuch des Teams um Curnoe und Ji Xueping, das Erbgut der chinesischen Fossilien auszulesen, scheiterte. Nun seien drei DNA-Laboratorien mit neuester Technik damit beauftragt worden, den genetischen Code zu analysieren, sagt Curnoe. "Jetzt müssen wir warten."

Erst die DNA wird zeigen, ob Paläanthropologen dem Stammbaum des Menschen einen neuen Ast hinzufügen müssen - oder ob es sich bei den scheinbar ungewöhnlichen Steinzeitprimaten aus China in Wirklichkeit um ganz normale Menschen handelte.