Unsere Verwandten lebten 5000 Jahre mit modernen Menschen zusammen, die früher nach Europa kamen als gedacht. Zähne gaben Aufschluss.

Hamburg. Es kommt nicht gerade oft vor, dass Milchzähne und Muscheln Geschichte schreiben. Doch mit Hightech-Methoden können Wissenschaftler heute auch solche scheinbar belanglosen Objekte nutzen, um zu ergründen, was vor vielen Jahrtausenden geschah. Ein internationales Forscherteam hat auf diese Weise nun überraschend die ältesten Überreste von Menschen in Europa bestimmt.

Dazu untersuchten sie in einem Computertomografen zwei fossile Milchzähne, die bisher den Neandertalern zugeordnet worden waren. Eine parallel durchgeführte Analyse von Muscheln, die in der gleichen Schicht gefunden worden waren wie die Zähne, ergab ein Alter von 43 000 bis 45 000 Jahren, berichten die Paläoanthropologen und Archäologen der Universitäten Wien, Oxford, Tübingen und des Senckenberg Forschungsinstituts in Frankfurt am Main im Fachjournal "Nature".

Die Erkenntnisse werfen ein neues Licht auf die Geschichte von Neandertalern und Menschen. Die gemeinsamen Vorfahren der beiden Gattungen entwickelten sich vor drei bis zwei Millionen Jahren in Afrika. In Äthiopien entdeckten Forscher 2003 die bisher ältesten Überreste von modernen Menschen - 160 000 Jahre alte Knochen. Der Fund stützte die These, dass die Menschen von Afrika aus andere Kontinente besiedelten. Überreste von Neandertalern wurden bisher jedoch nur in Europa, im Nahen Osten sowie im westlichen asiatischen Raum entdeckt, was zu der These führte, dass sich die Neandertaler erst in diesen Regionen entwickelten, während die Menschen dort später eintrafen.

+++Einzigartiger Fund - Neuer Urahn des Menschen+++

+++Hinweise auf letzte nördliche Neandertaler-Siedlung+++

Die bisher bekannten Überreste von Neandertalern in Europa wurden auf 160 000 bis etwa 40 000 Jahre datiert. Das bisher älteste Fossil eines modernen Menschen in Europa, entdeckt 2002 in der Höhle Pestera cu Oase in Rumänien, wurde auf etwa 40 000 Jahre bestimmt - jene Zeit also, in der es mit den Neandertalern zu Ende ging. Daraus hatten Forscher geschlossen, dass Neandertaler und moderne Menschen in Europa nur für kurze Zeit gemeinsam existierten, wenn überhaupt.

Tatsächlich lebten beide Gattungen aber bis zu 5000 Jahre lang zusammen, wie die neue Studie zeigt. Dazu passen Erkenntnisse, die Forscher um Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig vor Kurzem vorstellten. Sie hatten ermittelt, dass die heutige Bevölkerung in Europa und Asien ein bis vier Prozent Neandertaler-Gene aufweist.

Es kam also zu Kontakten zwischen Neandertalern und Menschen. Aber waren sich die beiden Gattungen sehr ähnlich? Die jetzt neu analysierten Überreste wurden bereits 1960 in der Grotta del Cavallo in Süditalien entdeckt. Zu dem Fund gehörten nicht nur die beiden Milchzähne und die Muscheln, sondern auch Schmuck und Farbreste - Zeugnisse einer relativ weit entwickelten Kultur, die man bis dato nur Menschen zugeschrieben hatte. Weil die Zähne aber fälschlicherweise Neandertalern zugeschrieben wurden, verursachte der Fund eine heftige Diskussion über die kognitiven Fähigkeiten von Neandertalern und die Frage, ob sie - unabhängig vom Menschen - ein symbolisches Verhalten entwickelt hatten.

Denn abgesehen von diesem Fund beschränkten sich die Zeugnisse von Neandertalern bis dahin und in den folgenden Jahrzehnten auf schön gearbeitete Faustkeile und Knochenwerkzeuge. "Unsere Studie zeigt, dass die Neandertaler in ihrer letzten Phase womöglich doch nicht so fortschrittlich waren, wie einige Forscher angenommen haben", sagt Dr. Ottmar Kullmer, Paläoanthropologe am Senckenberg Forschungsinstitut und einer der Autoren.

Für die Studie hatte Dr. Stefan Benazzi von der Universität Wien die Zähne in einem Micro-Computertomografen untersucht. In diesem etwa kühlschrankgroßen Gerät werden Proben Schicht für Schicht mit Röntgenstrahlen durchleuchtet; dabei lassen sich Strukturen bis auf 25 tausendstel Millimeter genau darstellen. Mit den so gewonnenen Daten über die Form, das Volumen der Zähne und die Dicke des Zahnschmelzes erstellte Benazzi dreidimensionale digitale Modelle der Überreste. Prof. Katerina Harvati von der Universität Tübingen lieferte Modelle von menschlichen Zähnen, deren Merkmale das Forscherteam nun mit den Modellen der vermeintlichen Neandertaler-Zähne verglich. Währenddessen ermittelte Dr. Katerina Douka von der Universität Oxford mit der C14-Methode das Alter der Muschelreste aus der Grotta del Cavallo. Zwar lässt sich die Methode auch bei Zähnen anwenden, doch angesichts der geringen Masse von zwei Milchzähnen beschränkte sich Douka auf die Muscheln.

Das Ergebnis war eindeutig: Die Zähne stammen von Kindern, die zu den modernen Menschen gehören. Erkennbar sei dies neben Unterschieden der Zahnform am Zahnschmelz, der beim Neandertaler dünner sei als beim Menschen, sagt Ottmar Kullmer. Mit Blick auf den Fundort in Süditalien sei es wahrscheinlich, "dass sich der moderne Mensch als Erstes entlang der mediterranen Küste ausbreitete", sagt Katerina Harvati. "Dies unterstreicht die Wichtigkeit Südeuropas in der Verbreitung der frühen Menschen."

Warum trotz der 5000 Jahre währenden Koexistenz schließlich der Neandertaler ausstarb , lässt Forscher allerdings immer noch rätseln. Es gibt dazu nur Theorien. Vielleicht war der Neandertaler weniger anpassungsfähig. Vielleicht war er im Kampf um Nahrung unterlegen. Oder der Mensch hat ihn ausgerottet - trotz aller Gemeinsamkeiten.