Columbia. Viele Säugetiere bevorzugen ein Single-Dasein. Von ihrer Biologie erhoffen sich Forscher neue Erkenntnisse zum Autismus.

Frauen können ja so anstrengend werden! Auch unter Bonobo-Männern scheint das ein bekanntes Phänomen zu sein. Gute Beziehungen zum anderen Geschlecht zu pflegen, ist für die geselligen Menschenaffen offenbar mit psychischem Stress verbunden. Zu diesem Ergebnis kam kürzlich eine Studie, die Martin Surbeck vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und seine Kollegen durchgeführt haben.

Warum also nicht lieber ein entspannter Single bleiben und den Kontakt zum anderen Geschlecht auf die Paarungszeit beschränken? Tatsächlich ist das unter Säugetieren eine durchaus übliche Strategie. Zahlreiche Arten vom Gürteltier bis zum Eichhörnchen und vom Braunbären bis zum Orang-Utan haben für die Gesellschaft ihrer Partner wenig übrig.

Doch ein solches Leben hat seine eigenen Herausforderungen. In letzter Zeit haben Verhaltensforscher immer neue Details über den Alltag und die besonderen Anpassungen der tierischen Einzelgänger herausgefunden.

Ungeselligkeit muss man sich leisten können

Männliche Weißrüssel-Nasenbären zum Beispiel denken gar nicht daran, sich irgendwelchen Gruppenstress zuzumuten: Sie sind Einzelgänger aus Prinzip. Warum aber leben dann die Weibchen der gleichen Art in Gruppen zusammen? Offenbar muss man sich Ungeselligkeit auch leisten können, meint Matthew Gompper von der University of Missouri in Columbia.

Wenn einem Männchen der Magen knurre, könne es mit einer ganz einfachen Strategie Abhilfe schaffen: „Finde Futter wie etwa reife Früchte, friss so viel wie möglich davon und jage andere Interessenten weg.“

Für die deutlich kleineren Weibchen aber ist das keine Option. „Sie können nicht gewinnen, wenn sie allein auf ein Männchen losgehen“, erklärt der Forscher. Also setzt das schwächere Geschlecht auf die Stärke der Gruppe, um sich bei der Konkurrenz um Fressbares durchzusetzen. Zwar müssen die Weibchen die Beute dann untereinander aufteilen. Doch das ist immer noch besser, als wenn sie erst gar keine erobern können. Zumal die Geselligkeit auch noch weitere Vorteile hat.

Die Vorteile des Gruppenlebens

Bei so vielen wachsamen Augen ist zum Beispiel die Chance besser, Feinde rechtzeitig zu entdecken. So landen die Mitglieder der Frauen-WGs deutlich seltener im Magen von Pumas oder Jaguaren als die männlichen Einzelgänger. Und es sind auch immer ein paar hilfreiche Pfoten in der Nähe, die ihnen Parasiten aus dem Fell klauben können.

Das ist wohl auch der Grund dafür, dass Weibchen deutlich seltener von Zecken geplagt werden als Männchen. Dafür leiden die geselligen Nasenbärinnen häufiger an Hautentzündungen, die durch winzige und daher kaum zu entfernende Milbenlarven ausgelöst werden.

Sowohl Geselligkeit als auch Eigenbrötelei haben also jeweils spezielle Vor- und Nachteile, die je nach dem Lebensraum der Tiere unterschiedlich stark zum Tragen kommen. Etliche Arten haben sich deshalb gar nicht hundertprozentig auf den einen oder den anderen Lebensstil festgelegt.

Bei Europäischen Wildkaninchen zum Beispiel ist das Single-Dasein in Städten wesentlich angesagter als auf dem Land. Das haben Madlen Ziege von der Universität Frankfurt am Main und ihre Kollegen herausgefunden, als sie die Wohnverhältnisse der Tiere in und um die hessische Großstadt unter die Lupe nahmen.

Der Einfluß des Stadtlebens

Das typische Landkaninchen lebt demnach in großen und komplexen Familienbauen mit 70 bis 80 Zugängen und bis zu 30 Bewohnern. Je städtischer dagegen das Milieu war, umso mehr und umso kleinere Baue fanden die Wissenschaftler. Oft waren in solchen Mini-Apartments Paare oder sogar nur einzelne Kaninchen zu Hause. Diese Diskrepanz zwischen Stadt und Land könnte nach Ansicht der Forscher auch mit dem unterschiedlichen Angebot an geeignetem „Bauland“ zusammenhängen.

In ausgeräumten Agrarlandschaften finden die Tiere offenbar immer weniger gute Lebensräume, sodass sich mehr Kaninchen denselben Standort teilen müssen. Städte mit ihren Parks, Gärten und anderen Grünflächen dagegen bieten ein ganzes Mosaik an potenziellen Standorten, so dass sich die Tiere auf mehr und kleinere Domizile verteilen können. Zudem könnten die höheren Temperaturen in der Stadt eine Rolle spielen, da die Kaninchen dort nicht so sehr auf wärmendes Miteinander im Bau angewiesen sind.

Nicht jeder kann sein Sozialleben allerdings so flexibel gestalten. Viele Arten bestehen unabhängig von den äußeren Umständen auf ihrer Vorliebe für die Einsamkeit. Freilebende Orang-Utans zum Beispiel verbringen Beobachtungen zufolge rund 95 Prozent ihrer Zeit allein.

Die Parallelen zum Menschen

Wenn sie dann doch auf einen Artgenossen treffen, zeigen sie oft ein Verhalten, das man bei einem Menschen als extreme Schüchternheit interpretieren würde: Sie wenden den Kopf ab, vermeiden Blickkontakt und mustern ihr Gegenüber allenfalls aus dem Augenwinkel. Schließlich gilt direktes Anstarren unter Menschenaffen als Drohgebärde. Da ist es aus Orang-Utan-Sicht besser, den Augenkontakt gleich ganz zu meiden.

Solche Beobachtungen erinnern Jared Edward Reser von der University of Southern California in Los Angeles stark an das Verhalten von Menschen mit Autismus. Betroffene, die unter anderem Probleme mit der Kommunikation und dem Sozialverhalten haben, schauen anderen Menschen oft nur sehr ungern in die Augen.

Und es gibt offenbar noch eine ganze Reihe weiterer Parallelen zwischen dem Verhalten von Autisten und allein lebenden Säugetierarten. Beide haben zum Beispiel ein geringes Bedürfnis nach sozialen Bindungen, können Gesichter von Artgenossen schlecht unterscheiden und zeigen eine relativ wenig ausdrucksvolle Körpersprache und Mimik.

Die Hirnregion, die die Gesichtsmuskeln steuert, ist bei Einzelgängern kleiner

Das alles hängt offenbar mit Besonderheiten im Nervensystem zusammen. Ein vielfältiges Mienenspiel ist zum Beispiel vor allem dann wichtig, wenn man ausgiebig mit Artgenossen kommunizieren will. Der Bereich im Gehirn, der die Gesichtsmuskeln steuert, ist daher bei sozial lebenden Affenarten besonders groß. Deutlich kleiner fällt er dagegen bei den Einzelgängern der Primatenwelt aus – und bei Autisten.

Auch bei den biochemischen Signalen im Körper gibt es Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Gruppen – zum Beispiel beim sogenannten „Kuschelhormon“ Oxytocin. Diese Substanz ist bei Säugetieren wichtig für die Bindung zwischen Mutter und Kind, aber auch für den Aufbau von Partnerschaften und anderen sozialen Beziehungen.

Sie wird beim Sex und bei positiven Sozialkontakten freigesetzt und scheint beim Entwickeln von Vertrauen zu helfen. Allerdings ist der Einfluss des Oxytocins nicht bei allen Säugetieren gleich groß, selbst bei nahe verwandten Arten gibt es je nach Lebensstil massive Unterschiede.

Eine sehr große Rolle spielt das Hormon etwa bei den nordamerikanischen Präriewühlmäusen, die für ihre lebenslangen monogamen Partnerschaften bekannt sind. Die verwandten Rocky-Mountains-Wühlmäuse dagegen haben für solche engen Bindungen nichts übrig und besitzen daher viel weniger Oxytocin-Rezeptoren im Gehirn. Gegenüber Artgenossen verhalten sie sich dementsprechend deutlich vorsichtiger, misstrauischer und ängstlicher als ihre Verwandten. Auch das erinnert an Menschen mit Autismus, die ebenfalls geringere Oxytocin-Mengen im Blutplasma haben als andere Leute. All diese Parallelen sind für Jared Reser kein Zufall. Er hofft daher, dass Wissenschaftler von den Einzelgängern der Tierwelt auch mehr über die biologischen Hintergründe des Autismus lernen können.