Forschungen zeigen: Löcher in den Zähnen sind keine Zivilisationskrankheit. Und Zucker spielt bei der Entstehung nicht die zentrale Rolle.

Leipzig. Softdrinks, Süßigkeiten, Cornflakes und Toast mit Nougat-Creme oder Marmelade – solche Nahrungsmittel hören Patienten in der Regel als Erstes, wenn ihnen der Zahnarzt ein paar Ratschläge mit auf den Weg gibt. Denn der in industriellen Lebensmitteln verarbeitete Zucker, so das Credo der Zahnmedizin, füttert genau jene Bakterien im Mundmilieu, deren saure Ausscheidungen den Zahnschmelz durchlöchern. Eine aktuelle Studie bringt diese These ins Wanken. Demnach war Karies schon eine Volkskrankheit, als der Mensch noch nicht Cola und Konfitüre, sondern Mammut und Bärlauch auf dem Speiseplan hatte.

Ötzi hatte schlechte Zähne. Wenn er jemals gelächelt haben sollte, sah man nur noch wenig Zahnfleisch und dafür umso mehr Karieslöcher. Aber der Gletschermann aus den Alpen lebte ja auch vor etwa 5000 Jahren, als es schon Brot und Getreidebrei mit vielen Kohlehydraten gab, die das Gebiss während des Kauens mit Zuckersirup fluten. Ötzi taugt also nicht wirklich dazu, um Karies als Zivilisationskrankheit zu brandmarken, denn seine Ernährung war ähnlich wie heute. Wer erkennen will, wie weit die Zahnfäule tatsächlich ein Produkt unseres naturentfremdeten Lebensstils ist, muss in der Menschheitsgeschichte weiter zurückgehen. In die Zeit der Jäger und Sammler vor mehr als 15.000 Jahren, als es noch keinen Ackerbau gab. Und genau das hat jetzt ein internationales Forscherteam unter Beteiligung des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie getan.

Als Untersuchungsmaterial dienten Skelettfunde aus der berühmten „Grotte des Pigeons“, einer Höhle im Osten Marokkos. Entdeckt wurde sie 1908, und als man in ihr Spuren der frühen Menschheitsgeschichte fand, erfolgten mehrere Ausgrabungen. Durch sie kamen die Forscher um Louise Humphrey vom Natural History Museum in London an die Kiefer von 52 erwachsenen Steinzeitmenschen, deren Gebiss man einer detaillierten Bestandsaufnahme unterzog.

Das Ergebnis offenbarte: Der Beruf des Zahnarztes hätte auch damals schon gute Perspektiven gehabt. Denn mehr als die Hälfte der Steinzeitzähne zeigten typische Karieslöcher, gerade mal drei der 52 Höhlenbewohner waren kariesfrei. „Das kann man durchaus mit heutigen Industriegesellschaften vergleichen, in denen viel raffinierter Zucker und verarbeitete Cerealien verzehrt werden“, erläutert Humphrey. Was natürlich die Frage aufwirft, was damals die Zähne löchrig machte. Denn Cornflakes und Würfelzucker kannte man in der Steinzeit noch nicht.

Aber man kannte die Eiche und ihre Früchte. Wissenschaftler gehen mittlerweile davon aus, dass der marokkanische Steinzeitmensch in großem Stil Eicheln sammelte und lagerte, um im Winter versorgt zu sein. Bei Bedarf wurden die Früchte dann geschält, gekocht, manchmal noch zerstampft und schließlich verzehrt. Diese Zubereitung brachte es jedoch mit sich, dass der Eichelzucker nicht nur für den Menschen, sondern auch für die Bakterien in seinen Zahnbelägen – vor allem von der Art Streptococcus mutans – optimal verwertbar wurde. Hinzu kommt, dass man damals den Eiweißbedarf vor allem aus Schnecken deckte. „Die sind zwar selbst nicht kariogen“, erklärt Humphrey, „doch sie enthalten Partikel, die den Zahnschmelz abtragen und dadurch kariogenen Läsionen den Weg bereiten.“

Der Steinzeitmensch förderte also sein löchriges Gebiss dadurch, dass er seine Kariesbakterien anfütterte und das Zerstörungswerk ihrer Säuren unterstützte, indem er den Schutzmantel seiner Zähne abschliff. Man kann darüber streiten, ob dies bereits die typische Folge einer naturentfremdeten Lebensmittelzubereitung ist. Im Falle der gekochten Eicheln kann man dies so sehen, doch Abrasionen am Zahnschmelz entstehen auch durch unverarbeitete Lebensmittel. Bei Rohköstlern findet man sie sogar besonders häufig.

Fluoride scheinen die Haftkräfte der Bakterien zu schwächen

Was aber die Zahnfunde aus der Grotte des Pigeons in jedem Falle zeigen: Karies ist keine typische Zivilisationskrankheit, und der in industriellen Lebensmitteln verarbeitete Zucker spielt bei ihrer Entstehung nicht die zentrale Rolle, die ihm weithin zugesprochen wird. Dies bestätigt auch eine Studie der University of Michigan, in der sich die Zivilisation wegen ihrer verbesserten Hygienebedingungen sogar als Kariesschutz herausschälte. Die amerikanischen Forscher kommen nach Auswertung von 36 Studien zu dem Schluss: „Seit der Verwendung von Fluoriden seit Mitte der 70er-Jahre nahm die Karieshäufigkeit ab, obwohl das Angebot von Zuckerprodukten in vielen Ländern stabil blieb.“ Man fand nur in zwei Studien einen signifikanten Zuckereinfluss, in den restlichen Untersuchungen aber nur einen mäßigen bis schwachen Zusammenhang. „Die Ernährung ist bei Menschen mit adäquater, regelmäßiger Mundhygiene und Fluoridverwendung nicht mehr die bedeutsamste Kariesursache“, resümiert Studienleiter Brian Burt.

Wer also auf Gebisshygiene und die Verwendung fluoridierter Zahnpasten achtet, muss für die Kariesprophylaxe keinen angstvollen Bogen um den Zucker in seiner Nahrung machen. Wobei der Wert der Fluoride nicht nur darin liegt, dass sie den Zahnschmelz härten. Denn an der Saar-Universität entdeckte man im Rastermikroskop, dass sie Bakterien an entsprechend behandelten Zahnwänden regelrecht abrutschen lassen. „Fluoride scheinen ihre Haftkräfte zu schwächen“, erklärt Studienleiterin Karin Jacobs. Was im Endeffekt bedeutet: Die Karieskeime sind zwar noch da, doch sie können sich nicht mehr am Zahn festsetzen, und dadurch geht die Wirkung ihrer demineralisierenden Säuren weitgehend ins Leere.

Und selbst wenn trotz Fluor die Attacke auf den Zahn gelingen sollte, hängt der tatsächliche Schaden davon ab, wie die Erkrankung behandelt wird. So wird in Deutschland relativ schnell gebohrt, um den betroffenen Zahn mit einer Füllung zu versorgen. Für Hendrik Meyer-Lückel vom Universitätsklinikum Aachen ist das ein Fehler, weil dabei sehr viel Zahnsubstanz verloren geht und diese nicht gleichwertig durch das Füllmaterial ersetzt wird. „Es gilt daher, die erste Füllung möglichst lange herauszuzögern“, so der Kariologe.

Die Alternative dazu wäre eine Infiltration. Dabei wird die kariös-poröse Zahnstruktur mit einem speziellen Kunststoff geschlossen. „Der Zahn muss vorher lediglich aufgeraut werden“, so Meyer-Lückel. „Den Rest macht der Kunststoff.“ Das übliche Bohren bleibt dem Patienten erspart.