Leipziger Forscher stoßen bei Erbgutuntersuchung auf mysteriöse Verwandtschaften
Leipzig. Die 28 Skelette lagen an einem unwirtlichen Ort: Temperaturen knapp über zehn Grad Celsius, die Luft extrem feucht. Wer in diese Kühlkammer will, muss in ein 13 Meter tiefes Loch steigen. Am Grunde, in der Sima de los Huesos („Knochengrube“), ruhten die Knochen und bewahrten eine 400.000 Jahre alte Geschichte. Das Höhlensystem in den Bergen Nordspaniens ist Paläontologen schon lange als eine wichtige Fundstätte von Menschen bekannt, die vor rund einer halben Million Jahren lebten. „Heute liegen die Knochen in einem Panzerschrank in Madrid“, sagt Matthias Meyer vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie (MPI-Eva) in Leipzig. Meyer interessiert sich für die Erbanlagen unserer frühen Vorfahren.
Mehl aus einem Hunderttausende Jahre alten Oberschenkelknochen
Er und seine Kollegen bohrten im Labor sechs winzige Löcher in einen 400.000 Jahre alten Oberschenkelknochen, entnahmen Knochensubstanz und bereiteten das wertvolle Gut in Leipzig auf: Sie extrahierten das Erbgut und untersuchten dieses. Das zuvor älteste analysierte Erbgut von Homininen – modernen Menschen und seinen ausgestorbenen engen Verwandten – stammt nach Meyers Angaben von einem Neandertaler aus der belgischen Scladina-Höhle und sei etwa 100.000 Jahre alt.
Wie viele Überraschungen Wissenschaftler bei der Genuntersuchung uralten Erbguts erleben können, zeigte spätestens ein Fund aus dem Jahr 2010. Damals hatten Forscher um Svante Pääbo und Johannes Krause vom MPI-Eva ebenfalls Knochenmehl untersucht. Es stammte aus den Zellen eines etwa 40.000 Jahre alten kleinen Fingerknochens aus der Denisova-Höhle im südsibirischen Altai-Gebirge. Die DNA zeigte, dass dieser Denisova-Mensch eine eigene, bis dahin unbekannte Frühmenschenart war, die zeitgleich mit dem Neandertaler im fernen Osten lebte.
Wissenschaftler glauben, dass die Denisova-Menschen einst weit verbreitet waren und sich auch mit Homo sapiens mischten. Die Menschen aus dem Altai-Gebirge starben aus, aber ihre Gene existieren bis heute in modernen Menschen fort.
Derzeit gehen Anthropologen davon aus, dass der moderne Mensch (Homo sapiens) vor etwa 70.000 bis 100.000 Jahren Afrika über die Arabische Halbinsel verließ und in Europa auf Neandertaler stieß, mit denen er sich auch fortpflanzte. Davon zeugen Spuren des Neandertalergenoms in jedem heute lebenden Menschen. Irgendwann später trafen die modernen Menschen auch auf Denisova-Menschen, mit denen sie ebenfalls Nachkommen zeugten.
Wieso findet sich Erbgut der Menschen aus Sibirien in einer Höhle in Spanien?
Nach wie vor ist unklar, wie und wann die Neandertaler nach Europa kamen, woher die Denisova-Menschen stammten und wann und wo sich die beiden Arten trennten. Mit den Funden aus der Knochengrube konnten Meyer und seine Kollegen einen ersten Blick in diese frühe Zeit erhaschen. Die DNA-Analyse zeigte, dass diese Frühmenschen nicht, wie bislang gedacht, den Neandertalern zuzurechnen sind. „Statt der typischen Neandertaler-DNA fanden wir Hinweise auf den Denisova-Menschen.“ Das wirft eine Frage auf: Wieso findet sich Erbgut der Menschen aus Sibirien in Spanien? „Wir wissen es nicht“, sagt Meyer. „Der Denisova-Mensch ist selbst ein Mysterium. Nun finden wir seine DNA auch noch in Spanien.“