Tel Aviv. Eine 17-Jährige führt Tagebuch über Leiden, Tod und Liebe im jüdischen Ghetto: 72 Jahre später bekommt ihr Schicksal neue Aktualität.

  • Fast 80 Jahre nach Kriegsende sind bewegende Aufzeichnungen einer 17-Jährigen erschienen
  • Alisa Ehrmann führte auf Bitte ihres Geliebten im Ghetto Theresienstadt Tagebuch
  • Nach Kriegsende dachte sie, er sei tot. Doch das Schicksal meinte es nun gut

Es ist der letzte Eintrag in einem bewegenden Dokument:

19. Mai 1945. Wir haben zuende gespielt. Du hast Recht gehabt.

Mit diesen beiden Sätzen, gerichtet an ihren Geliebten, endet das Tagebuch der Alisa Ehrmann: Sie glaubt, dass der Mann tot ist, den sie heimlich geheiratet hat im von den Nationalsozialisten eingerichteten Ghetto Theresienstadt. Mit 17 hatte sie auf sein Bitten hin begonnen, dort die Grausamkeit, das Elend und die Momente der Hoffnung zu protokollieren. „Das Tagebuch ist eine Geschichte aus dem Holocaust, sie nimmt aber einen glücklichen Ausgang”, fasst ihr Sohn Daniel Shek zusammen.

Die Familie und die Gedenkstätte Beit Terezin haben die Aufzeichnungen des Mädchens als Buch veröffentlicht, nachdem eine Crowdfunding-Kampagne im Netz erfolgreich war: Sieben Monate Bangen und Hoffen in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs mit den Augen einer jungen Frau, die von Tod, Sehnsucht, Erlösung und Liebe schreibt.

In das Buch eingeflossen ist auch ein zweites Tagebuch, das die Familie nach dem Tod Alis Ehrmanns 2007 erstmals zu lesen bekam. Sehr persönlich, unglaublich reif, schreibt sie dort über ihre Gefühle. Unsere Redaktion veröffentlicht exklusiv Auszüge, ein Erscheinen in Deutschland ist geplant, derzeit läuft die Suche nach einem Verlag.

Alisa Ehrmann-Shek in einem Interview 1996. Sie engagierte sich in der Gedenkstätte Beit Terezin in Israel.
Alisa Ehrmann-Shek in einem Interview 1996. Sie engagierte sich in der Gedenkstätte Beit Terezin in Israel. © Beit Terezin | Beit Terezin

Rund 150.000 Menschen waren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in das einmal 5000 Einwohner zählende Garnisonsstädtchen Theresienstadt deportiert worden. Alisa Ehrmann war am 13. Juli 1943 darunter, die damals 16 Jahre alte Tochter eines jüdischen Vaters aus Prag und einer katholischen Mutter aus Wien wurde mit ihrer später in Theresienstadt gestorbenen Schwester als „Mischling“ nach Theresienstadt deportiert.

In dem abgeriegelten Ghetto lernt die junge Frau die Liebe ihres Lebens kennen, Zeev Shek. Zeev hat in Theresienstadt früh begonnen, alles zu dokumentieren. Aber dann muss er in einen Zug nach Auschwitz steigen.

Der zynische Spruch „Arbeit macht frei
Der zynische Spruch „Arbeit macht frei" hing auch in Theresienstadt. Alisa Ehrmann arbeitete in der Landwirtschaft, das brachte etwas mehr Freiheiten mit sich. © Yad Vashem | Yad Vashem

18.10.1944: Zeev 9 [Uhr] Transport. Um 9 abends Garnitur, um 2 nachts Abfahrt.

• 22.10 1944. Ich sehne mich nach Dir und du wirst langsam zu unerreichbar. Deine jetzige Existenz zu unbekannt. Ich beginne an der Selbstverständlichkeit unseres Wiedersehens zu nagen. Ich habe fürchterliche Angst um Dich. Bitte, bitte bleib gesund. In dieser Apokalypse der Schleuse schwindet mir jeglicher Glauben an einen Sinne.

Für 90.000 Menschen wurde Theresienstadt Durchgangsstation auf dem Weg ins Vernichtungslager, von ihnen erleben nur rund 4000 das Kriegsende.

• 23.10.1944: Um 9.30 Uhr Anfang mit Einwaggonieren. (...) Jetzt gehen sie ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen, Man sieht seltsam dem nach, der verweinte Augen hat. (...) Die, die gehen, sind zu Stein, die die bleiben, schlucken die Tränen. (...)

Alisa erfüllt den Auftrag ihres Geliebten: Jeden Tag nimmt sie heimlich den Tagesbefehl des Theresienstädter Ältestenrates von der Aushängetafel und hebt alle möglichen Verbote, Verordnungen und Formulare auf. Sie versteckt sie in einem Koffer in den Katakomben. Ihr Tagebuch führt sie auf deutsch, schreibt aber mit hebräischen Buchstaben.

27.10.1944. Wir taumeln von Angst zu Wunsch und beides quert sich im Wege der Gewalt. (...) Ich kann mich vor dem Transport fürchten, kann mir dann wieder wünschen, dass er kommt. Beides kann ich nicht und nichts kann ich nicht. Noch lebe ich, bin 17 Jahre alt.

Am 28. Oktober verlässt der letzte Transport nach Auschwitz das Lager.

29.10.1944 Ghetto wird reorganisiert. Schluss mit Transporten, vorläufig. Alle sind zu müde, um wieder anzufangen. Aber wir werden es doch wieder tun. Wir sind die gottgezeichneten Sklaven unserer unendlichen letzten Energien, die zum Aufbau nach Vernichtung, zum Aufbau nach Vernichtung des Vorigen, zu jedem Aufbau verurteilt sind.

Die SS beginnt, Beweise zu vernichten. Unter scharfer Bewachung müssen Gruppen von Häftlingen in Ketten Totenasche in die Eger kippen.

1. 11. 1944. Das Kolumbarium [Räume zur Aufbewahrung der Asche der Verstorbenen] wird geräumt. 30.000 Urnen, 30.000 Pappschachteln, 30.000 Reste von Menschen, Müttern,, Kindern, Geliebten... Aber was das schon ist... Vielmehr ist es das Bewusstsein, dass tote Zeugen, Material weggeschafft wird – und wir sind die Zeugen, die noch leben … Ich werde (...) ein Zeugnis nach bestem Wissen schreiben, dass es mich überlebe. (...) sagen der Welt und der Zeit, was hier vollendet wurde. (...) Keiner mehr soll das erleben, keiner.

Alisa Ehrmann arbeitet auf den Feldern und im Geflügelhof des Ghettos, beides bedeutete etwas mehr Bewegungsfreiheit.

Ihr Gemütszustand spiegelt sich auch in Zeichnungen wieder, die Alisa Ehrmann in Theresienstadt erstellt hat.
Ihr Gemütszustand spiegelt sich auch in Zeichnungen wieder, die Alisa Ehrmann in Theresienstadt erstellt hat. © Alisa Ehrmann-Shek/Beit Terezin | Alisa Ehrmann-Shek/Beit Terezin

5.11.1945 (...) Es ist so schwer sich mit 17 Jahren mit einem Tod, mit seinem Tod bekannt zu machen ohne sofort Selbstmord zu begehen – ich weiß dies, ich habe es zu spüren bekommen in diesen Tagen. (...) Es wäre so leicht, erlöst zu werden. (...) Ich werde nicht jämmerlich Götter anflehen um ein Leben, das jämmerlich wäre, ich werde nicht resigniert und dumpf mich von einem Leben verabschieden, das Dumpfheit und Resignation wäre, ich werde nicht hysterisch alles aufgeben und die Verantwortung verscherzen, denn dann verschlösse sich mein Leben vor mir für immer vergiftet.

Rund 30.000 Menschen starben in Theresienstadt. Offiziell stand das Ghetto unter „jüdischer Selbstverwaltung“ unter Leitung eines Ältestenrats, faktisch musste der „Judenälteste“ tun, was ihm der Lagerkommandant der SS sagte.

9.11. 1944. Der Rest der alten Prager Kultusgemeinde wurde in Bauschowitz [letzter Bahnhof vor Theresienstadt] an den letzten Transport gehängt. Sie dachten, dass sie ihre Frauen, Kinder, Geliebten sehen werden, sie freuten sich auf das Ghetto. So musste es eigentlich ausfallen, wenn man sich ins Ghetto freut.

29.11.1944. Ich glaube, ich bin wirklich von jeder Hysterie frei, – vielleicht sogar ausgeglichen. Ich denke an einen ewigen Sommer und an Dich mitten darin, und wenn ich einen Tod sich darüber legen sehe, über mich und Dich, bleibe ich doch ganz ruhig. Weiß ich doch, wir haben richtig gelebt. Ich denke, ich glaube an Gott. In jener Weise, wie Du es verstanden hast.

25.12.1944 bis 15.1.1945. Krankenhaus – Nierenbeckenentzündung.

20.1.1945. (...) Ich habe heute so viel gearbeitet, dass meine Hände, am Papier angelehnt, zittern. (...) Es ist viel Flucht und Grauen darin.

1.2. 1945 (...) Über tausend jüdische Teile von Mischehen (Männer) sind aus Prag gekommen. Wir sind so müde dessen, unsere Gefangenschaft anderen beizubringen, sie mit ihr bekannt zu machen. Und doch – sehen wir sie durch die Augen anderer, da bricht der Bann und wir sehen: ein Blick, ein Vorgeschmack eines Zurückkehrens in einer Zukunft, dessen bloße Existenz eine unendliche Flut von Regungen, Leben bedeutet.

(...) Mein Wachsen und Reifen in Schönheit und Jugend und Anmut macht mich toll. Ich möchte weinen, weinen, ich will dies alles nicht. Die Menschen drehen sich hinter mir um, die mich kennen, sagen, ich werde von Tag zu Tag schöner. Es schreit mich an jedes Mal, wenn ich in den Spiegel seh. (...) Ich hasse dieses unaufhaltsame Verschwenden, dass so gar nicht mit der Seele verknüpft wuchert und geboren wird. (...) Die Blüten treiben und dabei weiß ich nichts mehr von einem Blühen.

Menschen am Eingang vor der früheren Festung Theresienstadt. 5000 Menschen lebten dort, ehe die Nationalsozialisten den Ort zum KZ machten.
Menschen am Eingang vor der früheren Festung Theresienstadt. 5000 Menschen lebten dort, ehe die Nationalsozialisten den Ort zum KZ machten. © Ivan Fric/USHMM | Ivan Fric/USHMM

3. Februar 1945. Transport nach der Schweiz auf Montag den 5.2. bestimmt, 1,200 Menschen. (...) Wer kann diese Skala von Empfindungen durchgehen, die wir in diesen Stunden tausendmal auf und ab rasten… Ach, wir Sklaven.

Tatsächlich dürfen am 5. Februar 1945 1200 Juden Theresienstadt in einem Zug in die Schweiz verlassen.

18.2.1945. (...) In meiner Seele ist eine Leere nach Dir, eine Leere von Ungewissheit und zu Tode gehetzter Unruhe., ich versinke, ich ertrinke darin. Wie ich Dich brauche, Deine Hand auf meiner Stirn, Deinen Schoß für meinen Kopf, ich wiege mich ganz in der Vorstellung, die mehr Leben besitzt als mein Leben allein. Wie ich Dich liebe, liebe. (...)

25.2.1945. (...) Und ewig ist die Steigerung. Vor sechs Tagen war mir lang nicht so furchtbar wie vorgestern, vorgestern lang nicht so wie heute. Wie soll es, Gott, übermorgen werden? Ein Licht nach dem anderen lischt aus, unaufhaltsam ist das Auslöschen. (...)

8.3.1945. Transport 1700 Ungarn, Slowaken aus Wien gekommen. Furchtbarer Zustand. Läuse, Läuse.

26.3. 1945. Freiberger [ein Bekannter von ihr aus der jüdischen Gemeinde in Prag] ist an die Reihe gekommen, wie konnten wir daran zweifeln. (...) Es ist zu furchtbar, dieses Wegwischen von Menschen, wortlos, schweigend, ohne Hass und ohne Leidenschaft. Es ist so ... unheimlich.

Immer noch wird für Besuche eine schöne Fassade aufrecht erhalten. 1944 hatten die Nazis sogar einen Propagandafilm drehen lassen, der von den mitwirkenden Juden bitter-ironisch „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ genannt wurde. Regisseur und die meisten Mitwirkenden starben wenig später im KZ.

2.4.1945 Drei Lastwagen aus der Schweiz mit Lebensmitteln angekommen. (...) Die Chauffeure bleiben im Mannschaftshaus. Während sie sich mit der SS unterhielten, schwitzte Georg im Kesselraum, (...) um den Herrschaften ein warmes Bad – als sei es hier so Gang und Gebe, zubereiten zu können. (...) Wie viel höher stehe ich in meinem Elend als sie in ihrem Wohlstand. (...) Ich darf alle, alle hassen und da ich aus ihren Händen nur Tod und Qualen bekommen, brauche ich nie dankbar zu sein, nie, niemehr.

12.4.1945. Alle Kartotheken, Dokumente bis zum Ende 1944 werden verbrannt. Aus allen Kaminen Rauchwolken. Da brennt Material, das nie zu ersetzen ist. Die Dokumente von Zeev steigen von Minute zu Minute im Wert.

Unter Vermittlung des Roten Kreuzes werden am 15. April 425 dänische Juden von Bussen des Schwedischen Roten Kreuzes abgeholt.

16.4.1945. Man erzählt die tollsten Dinge: Das Ghetto wird dem Roten Kreuz übergeben, verschiedene „Sorten“ sollen ins Ausland.(...) Alles kann wahr sein, wir sind derart mit den Nerven zu Ende, was mag der morgige Tag bringen?

In den letzten Wochen des Krieges wurden völlig ausgemergelte Menschen vor den anrückenden Alliierten aus Lagern nach Theresienstadt gebracht. Es waren Menschen, die zum Teil erst Wochen zuvor aus Theresienstadt in Züge in die Vernichtungslager gepfercht worden waren.
In den letzten Wochen des Krieges wurden völlig ausgemergelte Menschen vor den anrückenden Alliierten aus Lagern nach Theresienstadt gebracht. Es waren Menschen, die zum Teil erst Wochen zuvor aus Theresienstadt in Züge in die Vernichtungslager gepfercht worden waren. © picture-alliance/ dpa/dpaweb | dpa Picture-Alliance / CTK

Die deutsche Niederlage zeichnet sich immer mehr ab.

17.4.1945. (...) Nachmittag um halb drei kamen Flieger. Hunderte. (...) Sie zeichneten am Himmel lange Nebellinien, ließen Nebelzeichen senkrecht hinunter, warfen Papier und Staniol ab. Alle Menschen standen draußen, eine berauschte Menge. Die Stadt war ein einziges Aufjubeln (...) Wir fühlen uns plötzlich so sicher und bewacht und behütet von der Welt, die von uns weiß... Die Deutschen bereiten sich vor. (...) In der Sudetenkaserne am Hof brennen zwei grosse Feuer. Schwitzende SS-Männer werfen 10/ 20 Kg Pakete Akten aus den Fenstern heraus. Sie stehen in einer Kette, wie die Juden vor einem Jahr, und plagen sich ab.

Ab dem 20. April 1945 kommen Tausende Menschen in Theresienstadt an, die die Nazis angesichts der vorrückenden Truppen aus aufgelösten KZ wegschaffen. Lange Fahrten oder wochenlange Märsche liegen hinter vielen, viele sind dem Tod nahe. Die Verhältnisse sind chaotisch.

20.4.1945. Um 6.30 Uhr kam ein Transport von 25 Waggons, 1800 Leute an. (...) „Auschwitz“, „Birkenau“, „Hannover, Buchenwald“, sie riefen alle die grausamen Formeln aus dem Zug. Da blieb das Herz der Stadt stehen, und jetzt sind sie da. Stinkende, verpestete Viehwaggons. Darin stinkende, verpestete Menschen, halb lebendig, halb tot oder Leichen.(...) Furchtbare Gesichter, Knochen und Augen. (...) Der und der ist gekommen. Namen, Mutter, Tochter, Geliebter von dem und dem. Allen gruselt es. (...) Mütter erkennen ihre Kinder nicht wieder, sie haben verloschene Augen. Leute werfen ihnen Brot zu, sie stürzen sich darauf und schlagen sich darum. Sie sind 8 Tage unterwegs. Sie sind verhungert. In all dem Elend wurde mir klar, wie gut es ist tot zu sein.

Doch sie erhält dann Nachricht, die sie hoffen lässt. Ein Neuankömmling berichtet, dass es Zeev zumindest im Januar gut ging. Aus Auschwitz ist er weiterverlegt worden, war im Außenlager Gleiwit.

21.4.1945. (...) Vielleicht gibt es eine Hand, die im millionenfachen Tod ein einziges Wunder macht. Und der Gedanke an Dich wird von Stunde zu Stunde mehr zu einem Gottesdienst für diese Hand. Vielleicht gibt es noch einen Sinn - und er hat Dich aufgespart? Ich werde Dir die schönsten Kinder geben und du wirst etwas schaffen für das Land, etwas, woran der ganze Sinn dieses Wunders offenbar wird,

Unter den Knochengerippen, die in diesen Tagen nach Theresienstadt gekommen sind, sind Verbrecher, auch Mörder, und alle sind völlig verrohrt von den brutalen Umständen. In Theresienstadt kommt Angst auf vor den Neuankömmlingen, und jetzt ist es ein Problem, dass die gefürchteten Wachleute sich nicht mehr kümmern.

23.4.1945. (...) Es ist grauenhaft. Gestern suchten wir unsere Menschen unter ihnen, heute zerbrechen wir uns den Kopf, wie wir uns ihrer aus Gegenwehr entledigen könnten. Uns geht ein Gruseln über den Ruecken… und wir haben Angst. Denn sie sind wahnsinnig und 3,000 und wir haben keine Männer, nur die Versippten. Und keine Waffen, und keine SS und keine Gendarmerie.

Nachrichten stürzen auf sie ein wie ein Wasserfall, schreibt sie. Sie berichtet im Stakkato von ihrem früheren Kinderarzt, der in Auschwitz entschieden habe, wer leben darf und wer sterben muss. Sie schreibt auch vom Suizid eines anderen Bekannten. Der habe es nicht ertragen, der „Jugendfürsorge“ in Auschwitz zugeteilt worden zu sein.

24.4.1945. Bei Beginn der Vergasungen von Kindern eine Art Auflehnung – gescheitert. Er war konsequent, er schnitt sich die Adern durch. (...)

Ihre Gedanken drehen sich um Zeev. Dass er am Leben sein soll, lässt sie Mut schöpfen.

Zweisamkeit in Theresienstadt in einem Gemälde von Alisa Ehrmann: Eine Erinnerung an die Zeit mit ihrem Geliebten in dem Ghetto?
Zweisamkeit in Theresienstadt in einem Gemälde von Alisa Ehrmann: Eine Erinnerung an die Zeit mit ihrem Geliebten in dem Ghetto? © Alisa Ehrmann-Shek/Beit Terezin | Alisa Ehrmann-Shek/Beit Terezin

24.4.1945. Nachricht von Zeev - Klinger -Kaufering (nahe München und Innsbruck), dort mit ihm bis 5.1., er sang im Kabarett, es ging ihm sehr gut. Essen genug, sah unverändert aus… Wer kann verstehen, was das für mich bedeutet. Ihn aufsparen, o Gott, dass wir viele Kinder haben können - nichts mehr, nichts.

Das Paar wird später drei gemeinsame Kinder haben.

29.4.1945. (...) Du lebst. (...) Je mehr ich das Glück empfinde, je mehr ich halb trunken alle Tage durchblättere, an denen ich Dein Leid und Deinen Tod vielleicht gelitten und Du lebtest, je mehr ich alle grausamen Stunden in ihrer Wirklichkeit der Angst auslösche, desto größer und konkreter und geformter wird die Angst um Dich. (...) Ich möchte laufen, fliegen und die Wirklichkeit mit bloßen Händen formen und mit ihr kämpfen – und Dein Blut mit meinen Händen erringen und Dein Leben mit meinem Blut bezahlen. (...) Ich dachte, ich müsste am stärksten sein in diesen Tagen, dass ich alles tragen könne. Jetzt aber trägt mich die Liebe allein und alles, was in mir ist, ist sie.

Am 30. April nimmt sich Adolf Hitler im Führerhauptquartier das Leben. Als Gerücht erreicht es auch Alisa.

30.4.1945. (...) Himmler in Flensburg mit Bernadotte, Friedensbedingungen. Alle anderen spurlos verschwunden. Hitler tot? (...)

Alisa hält erneut fest, wie schwierig das Zusammenleben mit den Neuankömmlingen aus den KZ ist. Und hat Verständnis.

2.5.1945. Kapitulation abgelehnt, also weiter im Trott. Abends Aufstand in den Westbaracken, in der Nacht in „Hamburg“ [Name eines als Unterkunft genutzten Kasernenkomplexes]. Küche zertrümmert, Apotheke vernichtet, Zimmer der Putzkolonne ausgeraubt. Es ist wahr, diese Menschen haben den Vernichtungswahn Europas in ihr Blut aufgenommen. (...) In ihnen manifestiert sich der Krieg und der Fluch, der an der Welt haftet. (...)

Die Anarchie weiter aus. alle Strukturen von brutaler Unterdrückung und Überwachung lösen sich auf.

Düsternis in einem Bild.
Düsternis in einem Bild. © Alisa Ehrmann-Shek/Beit Terezin | Alisa Ehrmann-Shek/Beit Terezin

4.5.1945. Die lockere Disziplin steigert Stunde für Stunde die Psychose. Menschen, denen es früh noch nicht eingefallen ist, packen sich plötzlich zusammen und fliehen... Diese zu halten, heißt Wasser in einem Sieb zu fangen. (...) Im Ghetto bewegen sich Arier in jeder Ecke. Sie holen die Gatten und Kinder ab, und dann gehen sie einfach. Keiner hält sie an, keiner fürchtet die Gewalt der Vorgesetzten, denn sie existieren einfach nicht mehr.

Am 2. Mai sind Vertreter des Roten Kreuzes nach Theresienstadt gekommen, zunächst ist davon wenig zu spüren. An ihrem 18. Geburtstag am 5. Mai schreibt Alisa:

5.5.1945. Nachts habe ich gefiebert, es war eine schwere Nacht. Und morgens um 11, als ich aufwachte, kam von der Straße ein Jubel. [Tschechoslowakische Freiwilligenkämpfer sind ins Lager gekommen] Kommandantur gestürmt, [Lagerkommandant Karl] Rahm und [der stellvertretende Lager-Inspekteur Rudolf Haindl] Heinl flohen ins Kameradschaftsheim. An der Tür der Kommandantur Plakate mit Rotem Kreuz, und warum dies alles, weiß keiner. (...)

6.5.1945. (...) Der erste Rausch ist fort. (...) Man hört wieder von SS-Kämpfen in Prag. Das Fliehen eingestellt, Nachricht von 28 erschossenen Flüchtlingen an der Landstraße. (...) Das Rote Kreuz ist nicht erschienen, so machen wir den Kren, allein, wie immer.

Am 7. Mai erklärt Deutschland die bedingungslose Kapitulation, am 8. Mai tritt sie in Kraft. Und am Abend des 8. kommen sowjetische Soldaten in das Ghetto.

8.5.1945. (...) Abends um halb zehn die ersten Russen. Gebrüll und Jubel. Gestern sangen sie [die Menschen im Ghetto] tschechische Lieder und trugen Trikolore, heute singen sie die Internationale und tragen rote Fahnen durch die Stadt. Ich kann nicht mehr mit ihnen gehen, denn in mir brach etwas. Und in mir liegt die Last von Jahrhunderten. (...)

16.832 Überlebende werden nach der Befreiung des Ghettos gezählt. Zunächst sieht die Lage für sie ähnlich verzweifelt aus wie zuvor. Die Typhus-Epidemie greift um sich, zwischen 800 und 1000 Menschen sterben noch nach der Befreiung am Flecktyphus, darunter auch Ärzte und Krankenschwestern. Auch Alisas Schwester Ruth, bei Kriegsende eine von zwei Krankenschwestern im Lager, stirbt im Sommer 1945.

Mit Befreiung durch sowjetische Truppen rollt auch wieder medizinische Hilfe an für die kranken und völlig entkräfteten Menschen, Das Foto ist vom 9. Mai 1945. An dem Tag bemerkte Alisa Ehrmann noch nichts von der Unterstützung, schrieb sie in ihr Tagebuch.
Mit Befreiung durch sowjetische Truppen rollt auch wieder medizinische Hilfe an für die kranken und völlig entkräfteten Menschen, Das Foto ist vom 9. Mai 1945. An dem Tag bemerkte Alisa Ehrmann noch nichts von der Unterstützung, schrieb sie in ihr Tagebuch. © picture-alliance/ dpa/dpaweb | dpa Picture-Alliance / CTK Josef Vosolsobe

9.5.1945. (...) Südbaracken: Die Menschen sterben, 10 bis 20 am Tage. Die Kranken von 100 auf 180 in die Baracke. Sie sind verhältnismässig zu ihrem Elend diszipliniert.(...) Entwesung [das Beseitigen von Läusen] geht den ganzen Tag nicht, kein Wasser und Strom. Keiner hilft uns. Wir wünschen nur mehr, dass eine Bombe in das Elend einschlägt. Retten? Man sieht nur Tod und Elend, das Erste ist besser, denn Leben können wir den Leuten nicht geben, auch wenn sie lebendig bleiben.

Eine Woche nach Alisa hat Zeev Geburtstag, er wird 25, und Alisa weiß nichts über ihn.

13.5.1945. Was soll ich noch zu diesem Datum schreiben? (...) Ich bin traurig, traurig und allein. Alles verlässt mich.

14.5.1945. Dank den russischen Eingriffen wird wieder gearbeitet. Langsam gibt die Anarchie und Hysterie nach und es kommt wieder Ordnung in die Sache. (...) Die Idioten aus dem Völkchen sehen aber nur, dass die Soldaten Mädchen belästigen.

15.5.1945. Die russischen Kommandanten sind prima. (...) Sie schicken massenhaft Fressen, wir werden bald wie die russische Armee verpflegt. (...) Sie nehmen die Infektion in die Hand.

18.5.1945. Abends Brief. Ich habe meine Mutter wieder.

Dann bekommt sie die falsche Nachricht, dass Zeev tot ist. Es ist der letzte Eintrag in diesem Tagebuch.

Mit der Befreiung des Ghettos besserte sich das Leben für viele der Bewohner zunächst nicht.
Mit der Befreiung des Ghettos besserte sich das Leben für viele der Bewohner zunächst nicht. © Alisa Ehrmann-Shek/Beit Terezin | Alisa Ehrmann-Shek/Beit Terezin

19.5.1945. Wir haben zuende gespielt. Du hast Recht gehabt.

Das Leiden in Theresienstadt war damit noch nicht vorbei, erst Ende Mai beginnt die Entlassung der Häftlinge. Das Krematorium wurde inzwischen auf dringenden Rat der Ärzte hin wieder in Betrieb genommen worden, um Leichname der an Flecktyphus verstorbenen Menschen zu verbrennen.

Die Tschechoslowakei richtet in Theresienstadt schließlich das Internierungslager ein, wo während der Vertreibung der Deutschen bis 1948 mehr als 3500 meist deutschsprachige Personen inhaftiert werden. Über 500 der nun Internierten überleben das Lager nicht.

SS-Lagerkommandant Karl Rahm wurde in Österreich gefasst. Nach der Auslieferung in die Tschechoslowakei war er am 30. April 1947 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt und vier Stunden später hingerichtet. Im gleichen Jahr heiraten Zeev und Alisa noch einmal offiziell, nachdem sie sich wenige Wochen nach der Befreiung wieder getroffen haben. Zeev Shek tritt in den diplomatischen Dienst ein und wird später Botschafter Israels in Wien und Rom. Alisa Ehrmann-Shek arbeitet 25 Jahre lang ehrenamtlich für das von Theresienstadt-Überlebenden gegründete Museum „Beit Terezin“. Am 9. März 2007 stirbt Alisa Ehrmann-Shek.