Essen. Die Medizin steht vor einer digitalen Revolution. Das ist gut für den Patienten, sagt Experte Jörg Debatin – vorausgesetzt, die Daten sind sicher

Die Patientin wartet, während das System Millionen Datensätze durchforstet, körperliche Merkmale abgleicht, genetische Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Krankengeschichten, Therapien. Nach einigen Minuten präsentiert es dem Arzt drei Behandlungsoptionen, inklusive einer realistischen, statistikbasierten Prognose der jeweiligen Wirksamkeit. So könnte sie aussehen, die Medizin der Zukunft. Die digitalisierte Medizin.

Einer, der sich schon lange intensiv mit der Digitalisierung der Medizin, ihren Chancen und Möglichkeiten, auseinandersetzt, ist der Radiologe und Manager Professor Jörg Debatin. In seiner Zeit als Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) sorgte er dort für die Umstellung auf digitale Patientenakten – seit 2009 ist die Klinik „komplett papierfrei“, wie Debatin sagt. „Alles, was an Daten erhoben wird, wird digital erhoben, ob der Patient nun in der Notaufnahme ankommt oder auf einer Fachstation aufgenommen wird.“

Das erleichtere den Austausch und die interdisziplinäre Arbeit ungemein. Heute verantwortet Jörg Debatin von den USA aus die weltweite Technologie- und Produktentwicklung für die Gesundheitssparte von General Electric. Die digitale Datenerfassung, wie sie mittlerweile auch an einigen anderen deutschen Kliniken praktiziert wird – sie scheint nur ein winziger Schritt zu sein auf dem Weg in eine medizinische Revolution. Verglichen mit anderen Bereichen sei die Medizin in Sachen Digitalisierung immer ein wenig im Rückstand gewesen, sagt Debatin. Nur schleppend geht mancherorts die Anpassung der Infrastrukturen im Sinne des E-Health-Gesetzes voran. Digitale Patientenakten, digitale Gesundheitskarten – der Gesetzgeber gibt die Neuerungen vor, die 2018 bundesweit Standard sein sollen. Minimalstandard, wenn es nach Debatin geht.

Mittelfristig jedoch würden andere IT-Entwicklungen für die Medizin weitaus bedeutsamer werden, sagt Debatin: „cloud computing“ etwa und „deep machine learning“. Um zu illustrieren, was möglich sein könnte, wählt Jörg Debatin ein Beispiel aus der Industrie: Heute lasse sich beispielsweise für Flugzeug- oder Zugtriebwerke zuverlässig ­voraussagen, wann welches Teil ­kaputtgehen könnte. Solche Systeme auf die Medizin, auf den Menschen zu übertragen, sei natürlich extrem komplex – aber nicht unmöglich.

Am Anfang stehe dabei die Datenerhebung: Debatin skizziert die Möglichkeiten von „Gesundheits-Clouds“, die die Patienten mit ihren eigenen Daten füllen könnten, um dann ihrem Arzt oder anderen Personen bei Bedarf den Zugriff zu erlauben. Je größer diese „Datenseen“, wie Debatin sie nennt, desto größer das Potenzial der Datenanalyse-Systeme: Künftig könnten Maschinen riesige Datenvolumen vergleichen, um Zusammenhänge zu finden.

Nicht nur simple Korrelationen wie etwa zwischen Ernährung und Diabetes, „sondern Zusammenhänge, die wir Menschen so nie erkennen könnten“. Indem sie derartige Analysen ständig wiederholten, während die Datenseen wüchsen, würden die Maschinen kontinuierlich hinzulernen – und so irgendwann die jahrzehntelange Erfahrung von Fachärzten übertreffen, sagt Debatin. Mehr noch: Indem sie sich mit anderen Maschinen vernetzten, könnten sie einen Erfahrungshorizont simulieren, der über das Wissen von unzähligen jahrzehntelang praktizierenden Experten hinausgeht. „Die Chancen aus Sicht des Patienten sind gigantisch!“

Um seine Euphorie zu erklären, wirft Debatin einen Blick auf die Geschichte der Medizin: Früher sei man davon ausgegangen, dass die 0,5 Prozent DNA, die den Unterschied zwischen zwei Menschen ausmachen, nicht weiter relevant sind. Ein Medikament, das bei einem Menschen wirke, müsse auch bei einem anderen Menschen wirken. Die Realität aber sieht anders aus: Eine Chemotherapie beispielsweise kann bei dem einen Patienten hervorragend anschlagen, während sie bei einem anderen wiederum nur wenig bewirkt. Heute weiß man: Die 0,5 Prozent Unterschied, die man für unbedeutend hielt, machen drei Millionen Basenpaare aus. „Drei Millionen Differenzierungskriterien zwischen zwei Personen machen die Sache so komplex, dass unser menschliches Hirn gar nicht in der Lage ist, auf diese Unterschiede individuell einzugehen“, sagt Debatin und prophezeit: „Das Optimum für den einzelnen Menschen wird in Zukunft die Maschine herausfinden, nicht der Arzt. Schon heute gibt es eine Maschine, die MRT-Bilder exakter auswerten kann als ein ausgebildeter Radiologe.“

Effektivere Hilfe für Patienten mit seltenen Krankheiten, weniger Nebenwirkungen, keine unnötigen Therapien – das spricht aus Debatins Sicht für eine umfassende Digitalisierung. Weg von der standardisierten, hin zur personalisierten Medizin. „Das alles geschieht nicht morgen oder nächste Woche, aber innerhalb einiger Jahrzehnte.“ Dass diese Revolution von der Ärzteschaft ausgehen wird, daran glaubt Debatin jedoch nicht. Doch sobald erst Patienten ihren individuellen Nutzen darin erkennen könnten, „nämlich ein besseres, gesünderes, längeres Leben“, würden sie die Entwicklung vorantreiben.

Das Thema Datensicherheit wird an Bedeutung gewinnen

Natürlich nur, wenn auch die Datensicherheit gewährleistet sei. „Das Thema Cyber-Security wird ex­trem an Bedeutung gewinnen“, sagt Debatin. Der Gesetzgeber müsse zudem sicherstellen, dass die Daten allein dem Patienten gehören und dieser selbstständig darüber verfügen könne. „Man muss die ersten Schritte vorsichtig tun, ohne jemanden zu gefährden und ohne jemandem Angst zu machen“, mahnt Debatin. Aber würde der Radiologe selbst künftig eher der Interpretation eines Computersystems vertrauen als seiner eigenen? Debatin lacht: Natürlich werde es in der Entwicklung auch Fälle geben, in denen die Maschine scheitere – und doch könne sie einen Wissensstand und ein Maß an Zuverlässigkeit erreichen, die dem Menschen niemals möglich sein würden. „Am Ende wird die Maschine gewinnen.“