Regisseur Ulrich Seidl ist ein gnadenloser Beobachter. Am Donnerstag kommt sein Drama “Paradies: Liebe“ mit Margarethe Tiesel ins Kino.

Hamburg. In Ulrich Seidls "Paradies: Liebe" gibt es eine Szene, die das Thema des Films sozusagen in einem Bild zusammenfasst. An einem wunderschönen Strand in Kenia liegen mittelalte europäische Touristen auf ihren Sonnenstühlen. Davor, nur durch ein im Sand verlaufendes Seil von ihnen getrennt, warten junge Einheimische. Zwei Welten begegnen sich. Viele der älteren Frauen sind gekommen, weil sie sich hier kaufen können, was ihnen zu Hause fehlt: Aufmerksamkeit, Zuneigung und Sex. Die schwarzen Beachboys bieten ihre Dienste an, um mit dem Honorar ihrer "Sugar Mamas" ihren Lebensunterhalt zu verbessern und soziale Anerkennung zu gewinnen. Ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, bei dem allerdings beide Seiten einen hohen Preis in Fragen der Würde und des Selbstwertgefühls bezahlen. Mit diesem Film wurde Seidl schon zum zweiten Mal im Verlauf seiner Karriere nach Cannes eingeladen. Der umstrittene 60-Jährige hat sich mit seinen provokanten, aber eben auch einfühlsamen Filmen zum international erfolgreichsten österreichischen Regisseur nach Michael Haneke gemausert.

Auch wenn der Film das Wort Liebe im Titel führt: Mit Romantik hat die Geschichte nichts zu tun, umso mehr aber mit unerfüllter Sehnsucht. Und auch vom Paradies sind die Menschen auf beiden Seiten des Seils trotz ihrer Suche mit hohem Einsatz noch weit entfernt. Seidl kanzelt die Strand- und Bettgeschäfte nicht ab. Er stellt aber gesellschaftskritische Fragen. Warum sind Frauen angeblich nicht mehr begehrenswert, wenn sie nicht mehr einem überwiegend von den Medien unkritisch definierten Schönheitsideal entsprechen? Warum müssen sie woanders hingehen, um zu bekommen, was sie brauchen? Am Strand von Kenia spielen Aussehen und Alter keine große Rolle. Dass Zärtlichkeiten gegen Bares ausgetauscht werden, findet Seidl nicht ungewöhnlich. "Auch bei uns sind Partnerschaften oft ein Geschäft. Dabei kann es schon mal ausbeuterisch zugehen."

Die weibliche Protagonistin Teresa spielt die Grazerin Margarethe Tiesel in ihrer ersten großen Kinorolle mit großer Intensität und viel Mut zu schonungsloser Körperlichkeit. "Es gibt nicht viele, die das so machen würden", anerkennt der Regisseur, der auf eigenwillige Arbeitsmethoden setzt. Er schreibt zwar ein Drehbuch, darin gibt es aber keine Dialoge, nur Situationsbeschreibungen. Die verändert er noch, je nach den Gegebenheiten vor Ort. Am liebsten arbeitet er mit einem kleinen Team und möglichst unauffällig. "Sonst schränke ich mir meine Möglichkeiten zu sehr ein." An den Set kommt er dann ohne das Buch und lässt die Darsteller ihre Sätze improvisieren. "Ich schaue dann, was daraus wird."

Ulrich Seidl wollte eigentlich keine Trilogie drehen, sondern einen Film über drei Urlauberinnen und ihre unterschiedlichen Sehnsüchte, die er parallel erzählen wollte. Nur am Anfang und Schluss sollten sie einander begegnen. Nach den Dreharbeiten stellte er aber fest, dass sein Konzept nicht aufging. "Es gab zu viele intensive Szenen, die sich gegenseitig bedrängten." Also machte er aus einem Film drei.

Der zweite Teil, "Paradies: Glaube" ist im vergangenen Jahr in Venedig gelaufen und kommt bei uns im März ins Kino. Seidl wurde von den Reaktionen des Publikums überrascht. "Es wurde viel gelacht. Damit habe ich nicht gerechnet." Der Österreicher stammt aus einem katholischen Elternhaus, war Messdiener, sollte eigentlich Priester werden, hat aber gegen die strenge Form des Glaubens "immer rebelliert". Heute beschreibt er sich als einen Suchenden und seufzt: "Das schlechte Gewissen lässt einen nicht los." Der Abschluss der Trilogie "Paradies: Hoffnung" wird im Februar bei der Berlinale seine Premiere erleben.

Dass Seidl so erfolgreich werden würde, zeichnete sich lange Zeit nicht ab. Viele Landsleute mochten weder sein kompromissloses Menschenbild noch die wenig charmanten Eindrücke, die er von Österreich vermittelte. "Man hat mich Sozialpornograf genannt. Einige hätten mir am liebsten das Handwerk verboten", erinnert er sich und wollte sich schon damit abfinden, dass der Prophet nichts im eigenen Lande gilt. Seit er sich aber in "Hundstage" den Peinlichkeiten unter den Bewohnern einer Vorstadtsiedlung angenommen hat, hat sich das Blatt gewendet. Seidl gilt als ebenso gnadenloser wie origineller Beobachter. "Heute bin ich ein Star. Sogar Politiker kommen zu meinen Premieren", wundert er sich.

Aber er hat die steinigen Anfänge nicht vergessen. Wer auf seine Homepage geht, findet seine Profession: "Regisseur, Drehbuchautor, Produzent", beginnt es noch ganz artgerecht. Dann folgen Attribute, die man ihm zugeschrieben hat: "Voyeur, Menschenverachter, Zyniker, Sozialpornograph, Unhold, Provokateur, Pessimist, Humanist". Was für ein Spektrum! Irgendwo zwischen diesen Polen muss er sein.