Bei Protestmarsch für Lampedusa-Flüchtlinge wird ein Beamter verletzt. Pastor ruft zu Besonnenheit auf und wirft Senat eine Zermürbungstaktik vor.

St. Pauli. Ausnahmezustand im Schanzenviertel. Bei einer vom autonomen Kulturzentrum Rote Flora organisierten Protestaktion gegen die Flüchtlingspolitik des Senats ist es am Dienstagabend zu Ausschreitungen gekommen. Polizisten wurden auf der Schanzenstraße mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern beworfen. Die Beamten setzten Pfefferspray ein.

Etwa 1000 Menschen vorwiegend aus dem linken Spektrum hatten sich um 20 Uhr vor der Roten Flora versammelt und versucht, in einem nicht angemeldeten Demonstrationszug durch das Viertel zu ziehen. Die Polizei verhinderte dies mit mehreren Hundertschaften, die auch aus Bremen und Schleswig-Holstein kamen.

Wasserwerfer fuhren auf. An den Absperrungen und vor dem S-Bahnhof Sternschanze kam es dann zu den Auseinandersetzungen. Randalierer rissen Bauzäune nieder, zündeten Mülleimer an und zertrümmerten Gehwegplatten, um sich Wurfgeschosse zu verschaffen.

Auch berittene Polizisten waren im Einsatz, die unter dem Gejohle der Demonstranten ebenfalls mit Feuerwerkskörpern beworfen wurden. Ein Beamter sei verletzt worden, sagte eine Polizeisprecherin. Später zogen die Protestler in Kleingruppen durch das Viertel.

Die Aktion richtete sich gegen die Überprüfung und Registrierung von in Hamburg gestrandeten „Lampedusa-Flüchtlingen“ durch Polizei und Ausländerbehörde. Die Organisatoren hatten in einem Internetaufruf bereits mit Gewalt gedroht. Am späten Abend beruhigte sich die Lage zunächst wieder.

Am Morgen hatte die Polizei auch ihre Präsenz rund um die St.-Pauli-Kirche verstärkt. Pastor Sieghard Wilm: „Das ist ein Versuch, uns zu zermürben und uns zu diskreditieren, doch wir lassen uns nicht kleinkriegen.“ Am Nachmittag kamen rund 50 Anwohner und Unterstützer, um Solidarität zu zeigen und die Flüchtlinge zu schützen. „Wir haben gemeinsam versucht, die Nervosität aufzufangen“, sagt Wilm. Und so spielten Kinder mit den Flüchtlingen Fußball, stimmten auf der Gitarre Lieder an, Nachbarn brachten Kuchen. Das Vorgehen der Innenbehörde verurteilt Wilm: „Solche Maßnahmen sind die Verweigerung von Politik“, sagt der Pastor, der sich gegen Gewalt ausspricht: „Das Gebot der Stunde ist Besonnenheit.“ Wie geht es weiter? Gibt es einen Kompromiss? Das Abendblatt beantwortet die wichtigsten Fragen:

Warum geben die Flüchtlinge ihre Identität nicht preis?

Die Afrikaner, die vorwiegend aus Ghana, Nigeria, Mali und der Elfenbeinküste stammen, haben als Wanderarbeiter in Libyen gearbeitet und sind in den Bürgerkriegsunruhen nach Italien verschifft worden. Die italienischen Behörden hatten sie mit Touristenvisa für den Schengenraum und manche mit 500 Euro ausgestattet. 300 strandeten Anfang des Jahres in Hamburg. Seit Mai treten sie öffentlich in Erscheinung und fordern ein Gruppenbleiberecht auf Grundlage von Paragraf 23 im Aufenthaltsrecht. Danach hätte Hamburg die Möglichkeit, den Flüchtlingen mit Zustimmung des Bundes eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen zu erteilen. Aus ihrer Sicht ist eine Rückführung nach Italien wegen der dortigen Bedingungen unzumutbar. Eine Einzelfallprüfung lehnen sie ab. Laut Innenbehörde hat sich bis jetzt lediglich eine Person, die der Lampedusa-Gruppe zugeordnet wird, bei der Behörde gemeldet und sich freiwillig in ein Aufenthaltsverfahren begeben.

Warum hat die Polizei nicht schon früher kontrolliert?

Die Polizei hat eigenen Angaben zufolge in den vergangenen Monaten immer wieder Personen kontrolliert, die sich möglicherweise illegal in Deutschland aufhalten. Diese Kontrollen erfolgten innerhalb des normalen Streifendienstes. Nachdem Gespräche zwischen der Innenbehörde, der Kirche und den anderen Unterstützergruppen ergebnislos verlaufen waren, kontrolliert die Polizei seit Freitag verstärkt. Ziel ist, den Aufenthaltsstatus jedes Lampedusa-Flüchtlings zu überprüfen.

Warum ist die Innenbehörde so hart?

Innensenator Michael Neumann (SPD) sagt, die rechtliche Voraussetzung für ein Bleiberecht in Deutschland ist, dass die Flüchtlinge ihre Identität und ihre Geschichte offenlegen. Er beruft sich auf das Dublin-II-Abkommen, wonach Italien als europäisches Ankunftsland der Flüchtlinge zuständig ist. Eine Sonderreglung für die sogenannte Lampedusa-Gruppe lehnt er ab. Nachdem die Situation über Monate ungeklärt war, führt die Polizei seit Ende vergangener Woche Personenkontrollen durch. Die aufgegriffenen Männer mit italienischen Papieren, aber ohne gültigen Aufenthaltstitel werden erkennungsdienstlich behandelt und bekommen eine Vorladung bei der Ausländerbehörde. Die Innenbehörde betont, dass die Flüchtlinge während des Verfahrens so einen legalen Aufenthaltsstatus erhalten und damit das Recht auf Unterbringung, Verpflegung und medizinische Versorgung.

Droht jetzt eine Welle der Gewalt?

Eine Gruppe, die sich „Aktivist_innen für Bleiberecht statt Repression und rassistische Kontrollen“ nennt und dem Umfeld der Roten Flora zugerechnet wird, hat in einem Ultimatum an den Senat auch mit nicht legalen Protesten gedroht, sollten die Kontrollen nicht beendet werden. Die „Gewalt des Senates“ könne nur mit derselben Entschlossenheit beantwortet werden, heißt es. „Sollte es keine politische Lösung geben, sollen diese Stadt und der Senat keinen ruhigen Tag mehr erleben.“ Die Polizei nimmt die Drohung ernst, verweist aber auch auf den aggressiven Ton in einigen Internetforen – im Gegensatz zu mehreren Aktionen, die völlig gewaltfrei verliefen.

Was sagen die Unterstützer?

Die Spannweite der Unterstützer reicht von linksautonomen Gruppen bis zu frommen Christen. Während die Aktivisten aus dem Umfeld der Roten Flora gewaltsame Proteste angekündigt haben, setzt die evangelische Nordkirche weiter auf konstruktive Gespräche. „Innensenator Neumann erweckt den Eindruck, dass die Betroffenen eine Chance haben zu bleiben, wenn sie ihre Papiere vorlegen. Das finden wir unredlich“, sagt Anne Harms von der kirchlichen Beratungsstelle Fluchtpunkt. Sie bezieht sich auf einen in Gewahrsam Genommenen, der nach einer Anhörung bei der Ausländerbehörde eine Verfügung erhielt, nach der er Deutschland am 25. Oktober verlassen muss.

Was passiert am Mittwoch in der Ausländerbehörde?

Die 19 Männer, die am Freitag und Sonnabend aufgegriffen wurden, haben eine Vorladung bei der Ausländerbehörde bekommen. Nach Angaben von Sprecher Norbert Smekal sollen die Ersten am heutigen Mittwoch dort erscheinen und sich zu ihrer Fluchtgeschichte und möglichen Bezugspersonen in Deutschland äußern. Nach Informationen von Fluchtpunkt ist nur ein Antrag auf Aufenthaltsrecht aus humanitären Gründen realistisch. Bei einem Asylverfahren wäre Italien zuständig.

Wie geht es im Winter weiter?

Weil es in der St.-Pauli-Kirche zu kalt wird, sollen 35 Wohncontainer für die Flüchtlinge aufgestellt werden. Bauanträge für das Gelände der St.-Pauli-Kirche, der Christianskirche in Ottensen und der Martin-Luther-Kirche in Iserbrook sind beim Bezirksamt Altona eingegangen. Innensenator Neumann hat der Bezirksamtsleiterin Liane Melzer (SPD) mitgeteilt, dass sich die Kirche mit der Bereitstellung von Unterkünften strafbar machen könnte. Am 24.Oktober stimmt die Bezirksversammlung ab. Die Fraktionen sollen Zustimmung signalisiert haben.