Hamburg/Berlin. Obwohl die Polizei im Vorfeld warnte, eskalierte in Hamburg die Lage. Ist der Staat nicht ausreichend auf Randale der Autonomen vorbereitet?
Es gibt einen Satz, der in Hamburg in diesen Tagen sehr oft zitiert wird. „Wir richten ja auch jährlich den Hafengeburtstag aus.“ Dieser Satz stammt von Olaf Scholz, Wochen vor dem Gipfel. Der Bürgermeister spielte damit eigentlich auf das Verkehrskonzept für den G20-Gipfel in der Stadt an. Nach der Gewalt etlicher Randalierer am Rande des umstrittenen Regierungstreffens stehen Senat und Kanzlerin als Ausrichter des Treffens unter Druck. Der Satz mit dem „Hafengeburtstag“ fällt Scholz vor die Füße – niemanden interssiert noch der Kontext.
Denn die Frage nach der politischen Haftung für den Kontrollverlust im Schanzenviertel in der Nacht zu Sonnabend und die schmale Polizeipräsenz in Stadtvierteln abseits des Messegeländes wiegt mehr. Denn dort zerstörten Vermummte Autos und Geschäfte – früh morgens, zu einer Zeit, in der die Polizei die Regierungskolonnen von US-Präsident Trump und anderen Gipfel-Teilnehmern vom Flughafen zur Messehalle oder den Hotels sicherte und eskortierte.
Hat die Führung die Professionalität und Taktik der Militanten im Vorfeld ignoriert? Fielen falsche Entscheidungen in der Einsatzleitung der Polizei? Es gab Warnungen durch Sicherheitsbehörden vor bis zu 8000 „gewaltorientierten“ Demonstranten, die nach Hamburg reisen würden. Nach jetztigen Erkenntnissen kam nicht einmal die Hälfte. Das wirft auch die Frage auf: Wie gut haben Staatsschutz und Verfassungsschutz die Szene im Blick? Beobachten sie die Richtigen? Oder wurden Zahlen von „Gewaltbereiten“ genannt, ohne dass die staatlichen Behörden einen genauen Überblick darüber hat, wer mobilisiert und wie stark?
Die stärksten Bilder vom G20-Gipfel 2017
Denn die Polizei wurde während der Gipfel-Tage nicht von der Masse der Gewalttäter überrascht – aber doch von deren Professionalität und Kalkül. Und von dem Mix der Täter inmitten der engen Straßen der Sternschanze – Autonome, Krawalltouristen aber vereinzelt auch Party-Pöbler sammelten sich zwischen Reeperbahn und dem autonomen Zentrum „Rote Flora“. Selbst führende Akteure der autonomen Szene in Hamburg sagen mittlerweile: „Wir haben die Gefahr unterschätzt.“
Neue Erkenntnisse zu den Krawallmachern?
Bisher nennt die Polizei nur wenig Details zu den Personen, die am Wochenende mit Steinen und Flaschen, teilweise auch mit Zwillen, Beamte attackierten. Nach Informationen dieser Redaktion gab es bisher 168 Personen vorläufige Festnahmen, 228 Menschen sind in Gewahrsam, bei ihnen ließ sich ein Tatverdacht offenbar noch nicht erhärten. Zudem erteilten Richter mindestens 51 Haftbefehle, darunter auch ausländische Staatsbürger. Trotz der wenigen gesicherten Erkenntnisse ist eines offensichtlich: In Hamburg versammelten sich Linksradikale aus Hamburg, aus Deutschland und dem Ausland, um gezielt gegen Autos, Geschäfte und Polizisten vorzugehen.
Der Hamburger Extremismus-Experte und Pädagoge Kurt Edler beschreibt die Gewalttäter von Hamburg als „eine krude Mischung aus Event-Action und Abenteuer, Destruktionslust, partisanenhafter Feldbeherrschung und Selbstberauschung an internationaler Aufmerksamkeit“. Andere sprachen knapp von: Krawalltouristen. Wieder andere, darunter auch Polizisten selbst, waren überrascht von der Organisation der Ausschreitungen durch die Militanten: gezielt, strategisch, gut gerüstet.
Laut Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) reiste eine mittlere dreistellige Zahl an „gewaltbereiten“ Demonstranten aus dem Ausland an. Die Behörden können zudem noch keine genaue Zahl der „bekannte Linksextremen“ nennen, die insgesamt in Hamburg waren. Die Angaben variieren zwischen 1500 und 4500 Personen.
Ausschreitungen zwischen Polizei und Autonomen, anderen linken Gruppen, Hooligans oder sogenannten „erlebnisorientierten Jugendlichen“ sind nicht neu – Randale wird häufig zum „Event“, zum Rausch an der Eskalation mit der Staatsgewalt. Auch Plünderungen und Brandstiftung gab es bereits bei vergangenen politischen Großereignissen wie zuletzt der Eröffnung der „Europäischen Zentralbank“ in Frankfurt 2015. In Einzelfällen mischten sich sogar Rechtsextremisten unter den Protest gegen G20, so sollen laut Medienberichten auch dieses Wochenende noch einzelne Gruppen Neonazis nach Hamburg gereist sein. Ob sie sich an Ausschreitungen beteiligten, ist nicht bekannt.
Im aktuellen Bericht zählt der Verfassung 8500 „gewaltorientierte“ Linksextremisten – ein Anstieg um mehr als zehn Prozent zum Vorjahr. Die Straftaten sind dagegen in 2016 zurückgegangen (es fehlte ein politisches Großeregnis wie 2015) und werden insgesamt voraussichtlich mit den Übergriffen jetzt in Hamburg wieder ansteigen. In den meisten Fällen geht es um Sachbeschädigungen, aber auch Körperverletzung bis hin zu versuchten Tötungen.
Im Bericht des Inlandsgeheimdienst tauchen fünf Organisationen von Rechtsextremen auf, die der Verfassungsschutz beobachtet: darunter die NPD, „Die Rechte“ und „Der III. Weg“. Im linksextremen Bereich hat der Verfassungsschutz elf Gruppen und Parteien im Blick, darunter die DKP, die „Rote Hilfe“ und einzelne Mitglieder der Linkspartei.
Welche Rolle spielt der „Schwarze Block“?
Immer wieder im Mittelpunkt steht: der sogenannte „Schwarze Block“. Laut Extremismus-Experten ist der Zusammenschluss schwarz-gekleideter Autonomer mit Sonnenbrillen keine Organisation. Es ist eine heterogene Gruppe, der Zusammenschluss ist Taktik. Der „Schwarze Block“ entstand in den 1980er-Jahren im Kontext der Hausbesetzungen. Der „Block“ agiert in Kleingruppen, ist nicht hierarchisch organisiert, formiert sich immer wieder neu – von Protest zu Protest – und lässt sich auch deshalb von Demonstrations-Anmeldern nur schwer kontrollieren. Die autonome Szene und der „schwarze Block“ sind für einen großen, aber nicht genau qualifizierbaren Anteil des Gewaltaufkommens der polizeilich als „links“ erfassten Delikte verantwortlich.
In Hamburg zerstörten schwarz Vermummte abseits der Proteste gegen G20 in verschiedenen Stadtvierteln Autos und Geschäfte – oft in Kleingruppen, die sich nach einer „Aktion“ schnell wieder zurückzogen. Gewaltausübung gilt nach Ansicht von Soziologen wie Andreas Zick von der Universität Bielefeld zur „Norm“ in autonomen Gruppen. Der Hauptfeind: die Polizei, die Regierungen, Großunternehmen – das „kapitalistische System“. Angriffe auf Polizisten legitimieren sie oft mit der „Gewalt der Herrschenden“. Über den Grad der Radikalität und Militanz wird in der Szene diskutiert, es spalten sich Gruppen ab, bilden etwa weniger militante „post-autonome“ Bündnisse.
G20-Krawalle: Zerstörungswut in Hamburg
Berlin, Leipzig und Freiburg zu den Hochburgen. Und Hamburg. Im Schanzenviertel, wo der Gipfel in den Messehallen stattfand, hat die Konfrontation zwischen Polizei und Autonomen eine lange Tradition. Die harte Linie der Hamburger Polizeiführung hat nach Ansicht von Zick dazu beigetragen, dass sich der „Schwarze Block“ in seinem Feindbild bestätigt fühlt und Sympathisanten gewinnt. Bereits in den Tagen vor dem „G20“ räumt die Polizei mit Wasserwerfern eine Straßenkreuzung, auf der friedlich gegen den Gipfel demonstriert wird.
Am Donnerstag eskaliert eine Kundgebung der Autonomen, die sich „Welcome To Hell“ nennt. Willkommen in der Hölle. Der „schwarze Block“ bleibt friedlich, aber in Teilen vermummt, ein Verstoß gegen das Versammlungsgesetz. Die Polizei hält den Demo-Zug an, fährt Wasserwerfer auf. Nachdem Verhandlungen scheitern, gehen Stoßtrupps der Polizei vor und „wollen den schwarzen Block vom Rest der Demonstration separieren“, wie ein Sprecher der Polizei später sagt. Dann bricht die Krawalle los. Polizei und Demonstranten geben sich gegenseitig die Schuld für die Eskalation.
Autonome werfen Flaschen, Steine und Böller in Richtung Polizisten. Die antworten mit Wasserwerfern und Pfefferspray. Auch nicht militante Demonstrationsteilnehmer geraten zwischen die Fronten – immer wieder wird es so sein in den Tagen darauf. Auch das macht den G20-Einsatz in Hamburg für die Polizisten weniger kalkulierbar. Die Lage bleibt undurchsichtig: für die Einsatzleitung, für Journalisten, für Demonstranten und Passanten. Auch davor hatten Experten und Sicherheitsleute im Vorfeld gewarnt.
Aufnahmen von der Gewalt in Hamburg zeigen zudem, wie Autonome während der Straßenschlacht ihre Kleidung wechseln. Das erschwert die Strafverfolgung durch die Polizei. Zudem tauchten die Randalierer in der Sternschanze immer wieder zwischen Schaulustigen, Party-Volk und Demonstranten unter, fanden dort Schutz.
Was tut der Staat gegen Radikale?
Sicherheitsbehörden bewerten den Salafismus und Dschihadismus als größte Gefahr für die Demokratie. Die Anschlagsserie in Europa durch Terroristen mit Hunderten Toten in Paris, London, Brüssel, aber auch Berlin verdeutlicht das. Auch der Rechtsextremismus stand nach etlichen Übergriffen auf Flüchtlingsunterkünfte im Blickpunkt. Eine Radikalisierung und Zulauf unter Rechtsradikalen stellte der Verfassungsschutz erst kürzlich fest.
Politik und Medien hatten zuletzt einen geringeren Fokus auf das radikale linke Milieu, die Ausschreitungen am Rande von Demonstrationen waren mit Ausnahmen eher geringer – das galt auch für Proteste in Hamburg. Die Bundesregierung investiert dieses Jahr mehr als 100 Millionen Euro in Prävention in Extremismus – nur ein Teil davon fließt in den Linksextremismus, vieles geht in den Kampf gegen religiös begründete Gewalt, Antisemitismus und Rassismus. Wie viel Geld das Familienministerium in die Prävention gegen „linke Militanz“ genau investiert, gibt die Behörde nicht an. Ein Sprecher sagt auf Nachfrage dieser Redaktion nur: „Wir geben keine festen Summen für einzelne Bereiche vor“, es werde nichts „gedeckelt“. Was Projekte zur linken Militanz betreffe, habe das Ministerium alle eingegangenen Anträge bewilligt.
Die Union wirft dem SPD-geführten Familienministerium nach den Ausschreitungen in Hamburg vor, das Problem zu wenig angegangen zu sein. So legte Ministerin Manuela Schwesig in der Vergangenheit den Fokus auf Rechtsextremismus-Prävention.
Doch der Blick der Öffentlichkeit auf die militante linke Szene fokussierte sich, je näher der Gipfel in Hamburg rückte. Staatsschutz und Geheimdienst durchleuchteten die Szene, führten Razzien und Gefährderansprachen durch. In einem Fall entdeckten Polizisten in einer Garage in Rostock Präzisionszwillen, Wurfmesser, Baseballschläger, Schlagringe, ein Teleskopschlagstock und verbotene Pyrotechnik. Die Polizei rechnete den in Gewahrsam genommenen 30-Jährigen der linksextremen Szene zu.
Auch Hamburger Mitglieder linksradikaler Gruppen berichteten von Wohnungsdurchsuchungen. Der Verfassungsschutz veröffentlichte im Vorfeld des G20 sogar eine Namensliste mit radikalen Linken, eine außergewöhnliche Maßnahme. Senat und Bundesregierung wurden im Vorfeld vor den Risiken einer Austragung des Gipfels in Hamburg gewarnt. Die Bundespolizei kontrollierte die Grenzen schon Wochen vor dem Gipfel, ließ Personen nicht einreisen. Bei der Bundespolizei saßen spanische, italienische und französische Beamte mit im Lagezentrum.
Doch bleibt nach der Zerstörung auch die Frage, ob die Geheimdienste und Polizei ihre Taktik im Kampf gegen Gewalttäter ändern müssen.
Was fordert jetzt die Politik?
Trotz aller Maßnahmen gegen die Szene bleibt nach dem Gipfel das Fazit vieler in der Politik: Neue Maßnahmen gegen militante Linke müssen her. „Die Ereignisse rund um den G20-Gipfel müssen auch eine Zäsur für den Blick auf die Gewaltbereitschaft der linksextremistischen Szene sein“, sagte Innenminister Thomas de Maizière (CDU). Justizminister Heiko Maas fordert eine europaweite Extremisten-Datei. „Wir haben im Extremistenbereich keine ausreichende Datengrundlage in Europa.“ Die deutschen Behörden nutzen bereits eine bundesländerübergreifende Datei für „politisch motivierte Kriminalität links“. Europaweit ist es jedoch schwierig, gemeinsame Standards für radikale Linke zu vereinbaren.
Die FDP wirft SPD, Linken und Grünen eine „falsche Toleranz“ gegenüber Linksextremen vor. Politiker der Linken hatten nach den ersten Ausschreitungen vor allem der Polizei Verantwortung für die Eskalation in Hamburg gegeben. Nach den Plünderungen und Brandstiftungen distanzierten sich allerdings auch mehrere Politiker der Linken in Hamburg und im Bund von den Tätern. „Wir sind entsetzt und fassungslos über die Ereignisse der letzten Nacht, über die zerstörerische Gewalt, die sich in unserer Stadt ausgetobt hat“, sagte die Fraktionschefin der Hamburger Linken, Cansu Özdemir.
Der Linken-Chef Bernd Riexinger stellte klar: „Die Linke hat mit dem Linksextremismus (...) gar nichts zu tun.“ Und sogar das autonome Zentrum „Rote Flora“, die Vorfeld mit einem der „größten schwarzen Blöcke Europas“ gedroht und „Blockaden“ angekündigt hatte, nannte die Gewaltexzesse falsch. Doch da waren viele Läden und Autos in mehreren Stadtteilen Hamburgs schon zerstört.